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01. Mai 2024, von Michael Schöfer
Warum haben Kieselsteine keinen Wert?


Warum verwendet niemand Kieselsteine als Wertanlage? Vermutlich weil sie nicht selten und daher leicht zu beschaffen sind. Deshalb tauscht keiner etwas dafür ein, weder beim Metzger noch beim Bäcker bekommt man für Kieselsteine Wurst oder Brot ausgehändigt, und beim Porsche-Händler fliegt man wahrscheinlich hochkant aus dem luxuriösen Showroom. Mit einer sorgsam gehüteten Sparbüchse voller Kieselsteine ist man zumindest für Psychiater ein interessanter Fall, was freilich nur bedingt tröstet. Mit einer Ausnahme: Kinder dürfen das, die horten noch unbefangen wertlose Dinge. Einfach deswegen, weil sie - warum auch immer - Gefallen daran finden. Ohne jeden finanziellen Hintergedanken, was diesen Dingen wiederum einen besonderen Wert verleiht.

Aber die Frage, warum Kieselsteine in den Augen von Erwachsenen keinen Wert besitzen, ist durchaus berechtigt, stellt man doch oft fest, dass für andere, nüchtern betrachtet genauso wertlose Dinge mitunter sehr viel Geld bezahlt wird. Wie das Magazin "Rolling Stone" 2016 berichtete, wechselte im Jahr zuvor die nummerierte Erstpressung (Nr. 0000001) des Weißen Albums der Beatles für atemberaubende 790.000 US-Dollar den Besitzer. Doch was ist daran besonders wertvoll, die unbestreitbar grandiose Musik ist schließlich die gleiche? Das Weiße Album auf Vynil kostet momentan bei Amazon in den USA schlappe 29 Dollar, auf CD ist es sogar noch ein bisschen billiger. Warum also 790.000 Dollar bezahlen? Weil Ringo Starr der Vorbesitzer war?

Die Süddeutsche berichtet, dass seit geraumer Zeit in europäischen Bibliotheken Originalausgaben der Bücher des russischen Nationaldichters Puschkin entwendet werden. Und zwar auf sehr aufwendige Art und Weise: Die raffinierten Täter tauschen, damit der Diebstahl nicht sofort bemerkt wird, die Originale durch eigens angefertigte Kopien aus. Doch was macht eine Originalausgabe von Puschkin aus dem Jahr 1836 so wertvoll, bekanntermaßen bekommt man seine Werke in jedem x-beliebigen Buchladen für einen Spottpreis? Die Reclam-Ausgabe von "Eugen Onegin" kostet dort lediglich 8 Euro. Der eigentliche Inhalt, also Puschkins Dichtkunst, ist schließlich wie bei der Musik der Beatles ebenfalls identisch. Kommt es auf die Worte an oder darauf, wie alt die Druckertinte ist?

Kürzlich ist in Wien das Bild "Fräulein Lieser" von Gustav Klimt versteigert worden, der Käufer zahlte schier unglaubliche 30 Millionen Euro. Aber tut es ein Kunstdruck für 29,60 Euro nicht auch? Der Kunstdruck ist der Gustav Klimt für Arme. "Du Dilettant", werden mir Kunstkenner jetzt bestimmt zurufen, das Originalgemälde sei zweifelsohne wesentlich besser als ein schnöder Nachdruck. Jedenfalls in den Augen der Experten. Allerdings versprechen uns die rasanten Fortschritte bei der Künstlichen Intelligenz, dass Original und Fälschung demnächst selbst für die Koryphäen unter den Kunstkennern kaum noch zu unterscheiden sind. Warum also 30 Millionen berappen? Roboterarme malen dann "Fräulein Lieser" in Serie für die Dekoartikel-Abteilungen der Möbelhausketten - natürlich in Öl auf Leinwand und ganz im Stil des 1918 verstorbenen Meisters.

Selbstverständlich sind die Marktverhältnisse ausschlaggebend. Originale, ob Bücher, Musik oder Gemälde, sind bloß deshalb wertvoll, weil sie von vielen für wertvoll gehalten werden. Der Wert beruht also lediglich auf der informellen Vereinbarung, diese Dinge hätten tatsächlich einen Wert. Nüchtern betrachtet ist sie jedoch eine Illusion. Fiele nämlich diese stillschweigende Übereinkunft in sich zusammen, könnte der sicherlich gutsituierte White Album-Ersteigerer seine Platte bloß noch auf dem Flohmarkt verscherbeln - vollkommen gleichgültig, ob die Nummer 0000001 aufgedruckt ist oder nicht. Würden die Menschen Schallplatten ausschließlich nach der Musik bewerten und Bücher allein nach ihren Texten, gingen die meisten Auktionshäuser pleite, denn die von ihnen angebotenen Illusionen sind wertlos, sobald sie mangels Käuferinteresse wie eine Seifenblase zerplatzen. Das Album wurde von Ringo Starr in Händen gehalten? So what! "Back in the USSR" klingt dort auch nicht anders.

Doch ich kann die Besitzer der Auktionshäuser beruhigen, der Mensch wird immer nach dem Besonderen streben. Oder nach dem, was er dafür hält. Das Streben nach Prestige gehört untrennbar zur Natur des Homo sapiens. Das wissen sie selbst am besten, schließlich ist genau das ihr Geschäft. Und die Welt wird anscheinend liebend gerne betrogen, das ist bei Milliardären nicht anders als bei Normalverdienern, nur die Kosten der Illusionen unterscheiden sich gewaltig. Wer sich Exklusivität oder ein Original nicht leisten kann, kauft eben ein preisgünstiges Imitat. Die Fälscher werden deshalb ebenso wenig arbeitslos wie die Auktionatoren. Jeder profitiert auf seine Weise davon, dass nur Kinder Kieselsteinen einen Wert zuerkennen, während sie die Erstpressung des Weißen Albums wohl achtlos in die Ecke ihrer Spielzeugkiste werfen würden. Erst später, nach der erfolgreichen "Wertevermittlung" durch die Erwachsenen, bedauern sie zutiefst, dass sie nicht wenigstens ihre alten Superman-Hefte aufgehoben haben. Aber dann geht es ihnen nicht mehr um den Comic als solchen, sondern einzig und allein um den entgangenen Profit.