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05. Mai 2025, von Michael Schöfer
Doppelstandards wären leider nichts Neues


Der Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) sei ein wichtiges Zeichen, sagte Bundesaußenminister Annalena Baerbock. Das Gericht habe durch den Haftbefehl "deutlich gemacht, dass das Völkerstrafrecht wirkt". [1] Auch Bundeskanzler Olaf Scholz begrüßte den Haftbefehl. "Der Internationale Strafgerichtshof ist die richtige Institution, um Kriegsverbrechen zu untersuchen." Selbst Washington sah den vom britischen IStGH-Chefankläger Karim Khan beantragten Haftbefehl positiv, obgleich die USA den Internationalen Strafgerichtshof gar nicht anerkennen. US-Präsident Joe Biden bezeichnete den Schritt als gerechtfertigt. [2] Entsprechend fiel das Echo in der westlichen Presselandschaft aus: nahezu einhellige Zustimmung.

Diese Reaktionen aus dem Jahr 2023 bezogen sich auf den Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Nun wird in den Medien darüber spekuliert, dass der Internationale Strafgerichtshof auch einen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vorbereite. "Experten spekulieren darüber, dass der Chefankläger des Strafgerichtshofes, Karim Khan, möglicherweise den verringerten Zugang von Lebensmitteln in den Gazastreifen als Kriegsverbrechen werten könnte." [3] Das Aushungern der Zivilbevölkerung ist laut dem Zusatzprotokoll I zur Genfer Konvention verboten und wird gemäß Artikel 8 des IStGH-Statuts als Kriegsverbrechen eingestuft. "Die Gesetze des Krieges müssen respektiert werden", so Khan. "Sie dürfen nicht hohl ausgelegt werden. Sie dürfen nicht so interpretiert werden, dass wir sie nicht verstehen oder dass der Schutz, den die Genfer Konventionen den am stärksten Gefährdeten, nämlich Kindern, Frauen, Kranken oder Zivilisten bietet, dass dieser Schutz zunichte gemacht wird. Hier muss der volle Schutz ausgelegt werden." [4]

Mit einem Mal fallen die Kommentare zum IStGH im Westen nicht mehr so positiv aus. Eine Sprecherin des Weißen Hauses sagte, dass die US-Regierung die Ermittlungen nicht unterstütze, außerdem habe der Strafgerichtshof in Den Haag keine rechtliche Zuständigkeit. [5] Bei Putin sah man das in Washington noch anders. Angeblich soll es eine "stille Kampagne" der G7-Staaten geben, um Einfluss auf den Gerichtshof zu nehmen. [6] Die Frage ist, mit welchem Ziel. Den Haftbefehl gegen Netanjahu zu verhindern? Im März 2023 kündigte Bundesjustizminister Marco Buschmann die konsequente Vollstreckung des Haftbefehls gegen Wladimir Putin an: "Ich rechne damit, dass der IStGH zügig auf Interpol sowie die Vertragsstaaten zugehen und sie um Vollstreckung ersuchen wird. Deutschland ist dann verpflichtet, Präsident Putin, wenn er deutsches Territorium betritt, zu inhaftieren und an den IStGH zu übergeben." [7] Zu der aktuellen Entwicklung hüllt sich die Bundesregierung bislang in Schweigen, Regierungssprecher Steffen Hebestreit zufolge will sie sich zu den Spekulationen über einen Haftbefehl gegen Netanjahu noch nicht äußern. [8]

Wie lauten die hehren Ziele der vielbeschworenen werte- und regelbasierten internationalen Ordnung, die unsere Politiker ständig wie eine Monstranz vor sich hertragen? Darunter versteht Annalena Baerbock "eine Ordnung, die auf der Charta der Vereinten Nationen basiert, auf den Prinzipien von Selbstbestimmung, der Achtung von Freiheit und Menschenrechten und dem Prinzip der internationalen Zusammenarbeit". [9] Jeder muss das Völkerrecht einhalten, und vor dem Gesetz sind bekanntlich alle gleich. So sagt es zumindest die Theorie, in der Praxis sind manche jedoch erkennbar gleicher. (George Orwell)

Kommen hier abermals die westlichen Doppelstandards zum Vorschein? Verhalten wir uns gegenüber mutmaßlichen Kriegsverbrechen ohne Ansehen der Person stets gleich? Oder bewerten wir sie je nachdem, wer sie begangen haben soll (Putin oder Netanjahu)? Wenn der Westen zu letzterem neigen sollte, braucht er eigentlich vor internationalen Gremien gar nicht mehr aufzutreten, denn seine Glaubwürdigkeit wäre dann endgültig dahin. Wir werden es erleben. Ich fürchte, falls der IStGH tatsächlich einen Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu erlässt, wird man dem im vorigen Jahr, als es um Wladimir Putin ging, hochgelobten IStGH-Chefankläger Karim Khan möglicherweise Voreingenommenheit oder, was noch schlimmer ist, Antisemitismus vorwerfen. Solche Diffamierungen sind gang und gäbe. Und Doppelstandards wären leider ebenfalls nichts Neues, wir kennen sie zur Genüge.

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[1] ntv vom 17.07.2023
[2] tagesschau.de vom 18.03.2023
[3] tagesschau.de vom 04.05.2024
[4] tagesschau.de vom 04.05.2024 a.a.O.
[5] Die Zeit-Online vom 30.04.2024
[6] NZZ vom 30.04.2024
[7] Spiegel-Online vom 19.03.2023
[8] Berliner Zeitung vom 30.04.2024
[9] Bundesregierung,  Rede der Bundesministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock, bei der Münchner Sicherheitskonferenz am 18. Februar 2022 in München