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20. Mai 2024, von Michael Schöfer
Scheinargumente


Die Spekulationen in den Medien von vor zwei Wochen, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) könnte einen Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu beantragen, haben sich bewahrheitet. Karim Khan "sieht hinreichende Anhaltspunkte" dafür, dass Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant "die Verantwortung für eine Reihe von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit tragen. Khan führt das Aushungern von Zivilisten, Angriffe auf die Zivilbevölkerung, Ausrottung und Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen auf. (…) Beispiele seien die Unterbrechung von Wasser- und Stromleitungen, die Schließung der Grenzübergänge und die Behinderung humanitärer Hilfe. Der Chefankläger führt weiter aus, Israel habe Hunger als Methode der Kriegsführung eingesetzt und wolle die Zivilbevölkerung des Gazastreifens kollektiv bestrafen." [1]

Zugleich beantragte Khan einen Haftbefehl gegen drei führende Mitglieder der Terrororganisation Hamas: Yahya Sinwar, Mohammed Diab Ibrahim Al-Masri und Ismail Haniyah. Auch bei ihnen gebe es "hinreichende Anhaltspunkte, dass sie für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich seien. Ausrottung, Mord, Geiselnahme, Vergewaltigungen, Folter und andere unmenschliche Handlungen." [2] Der Chefankläger unterstreicht, dass das Völkerrecht für alle gilt und nicht selektiv angewendet werden darf. Vollkommen zu Recht. "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich", verlangt Artikel 7 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen.

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bekräftigt immer wieder: "Menschenrechte sind universell, unteilbar und unveräußerlich. Sie kennen keine Himmelsrichtung. Sie gelten für alle Menschen, immer und überall auf der Welt. Und überall auf der Welt sind sie gleich viel wert. Weil jedes Menschenleben gleich viel zählt." [3] Das sind doch hoffentlich nicht bloß Phrasen. Insofern ist es absolut unzulässig, bei Menschenrechtsverstößen irgendwelche Unterschiede zu machen. Israelis und Palästinenser genießen dieselben Menschenrechte, und außerdem sind beide verpflichtet, nicht selbst dagegen zu verstoßen. Die Nichtbefolgung dieses Prinzips mit den Handlungen anderer zu rechtfertigen, ist juristisch nichtig und obendrein moralisch indiskutabel. Wer foltert kann sich nicht mit dem Verweis auf die unmenschliche Handlungsweise seiner Feinde herausreden.

In der Praxis werden in der westlichen Wertegemeinschaft aber erfahrungsgemäß sehr wohl Unterschiede gemacht. Auch jetzt wieder: "US-Präsident Biden nannte das Vorgehen des Chefanklägers empörend und erklärte ebenfalls [wie zuvor das Auswärtige Amt], Israel und die islamistische Hamas dürften nicht gleichgestellt werden. (…) Ähnlich äußerte sich US-Außenminister Blinken. Dass Haftbefehle für hochrangige israelische Regierungsmitglieder zusammen mit Haftbefehlen für Hamas-Terroristen beantragt worden seien, sei 'beschämend'. (…) Österreichs Bundeskanzler Nehammer bezeichnete das Vorgehen des Chefanklägers am Internationalen Strafgerichtshof als 'nicht nachvollziehbar'." [4]

Doch das sind lediglich Scheinargumente, die bloß vom eigentlichen Sachverhalt (den mutmaßlichen Kriegsverbrechen) ablenken sollen. Joe Biden hat Jura studiert, Antony Blinken ebenso. Dass man bei möglichen Gesetzesbrüchen die Tat bewertet, aber nicht die gesellschaftliche Stellung des mutmaßlichen Täters, dürfte ihnen also hinlänglich bekannt sein, schließlich gehört das zu den Prinzipien des Rechtsstaats. Justitia trägt bekanntlich eine Augenbinde, urteilt folglich ohne Ansehen der Person. Wie heißt es üblicherweise in den Sonntagsreden der Politiker: Niemand steht über dem Gesetz. Genau darum geht es ja gerade in den USA, ob eine bestimmte Person für ihre Handlungen während der Präsidentschaft Immunität genießt. Und was man mit dem Blick auf Donald Trump vehement verneint, kann man dann bei Netanjahu wohl kaum bejahen. Was soll daran bitteschön nicht nachvollziehbar sein? Das dürfte selbst der Nichtjurist Karl Nehammer wissen. Ein Blick in Artikel 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs hätte vollauf genügt, um die Substanz der Anschuldigung zu erkennen.

Nun kritisiert auch die Hamas, mit den beantragten Haftbefehlen würden Opfer und Henker gleichgesetzt, doch das belegt bloß die Absurdität der Argumentation. Dass westliche Regierungen und die Hamas den Vorgang ähnlich bewerten, nur eben mit umgekehrter Rollenzuteilung (die eigene Seite ist natürlich ausschließlich das Opfer, die andere selbstverständlich einzig und allein der Täter), sollte zu denken geben. Wer das Völkerrecht der politischen Opportunität unterwirft, kann es gleich in den Reißwolf werfen. Am Ende regiert dann das Chaos und das Recht des Stärkeren. Was übrigens Wladimir Putin und Xi Jinping durchaus zupass käme.

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[1] tagesschau.de vom 20.05.2024
[2] tagesschau.de a.a.O.
[3] Auswärtiges Amt vom 26.02.2024
[4] Deutschlandfunk vom 20.05.2024