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22. Mai 2024, von Michael Schöfer
Eiferer dürfen für uns kein Gradmesser sein


Dass in der Frage des Haftbefehls gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu die Antisemitismus-Karte gezogen wird, habe ich bereits befürchtet, als in den Medien die ersten Gerüchte darüber kursierten. [1] Und das ist ja auch prompt eingetreten: Netanjahu "bezeichnete den Chefankläger Khan als einen 'der großen Antisemiten der Moderne'. (...) Khan gieße 'hartherzig Öl in die Feuer des Antisemitismus, die auf der ganzen Welt wüten'." [2] Ziel war offenbar bloß, Karim Khan zu diskreditieren. Juristisch stichhaltige Gegenargumente? Fehlanzeige!

Wobei wir uns über die Ausflüchte derjenigen, denen man Kriegsverbrechen unterstellt, nicht wundern sollten. Ihrem eigenen Urteil zufolge sind alle selbstverständlich völlig unschuldig. Schlimmer ist, dass die Antisemitismus-Keule auch andernorts geschwungen wird. Um nicht missverstanden zu werden: Antisemitismus ist zweifelsohne noch immer erschreckend weit verbreitet, aber meiner Ansicht nach wird der Vorwurf auch teilweise aus unlauteren Motiven heraus instrumentalisiert. Wie man am Beispiel des IStGH-Chefanklägers sieht, ist es offenkundig unmöglich, selbst auf juristisch fundierter Grundlage Kritik an Israel zu üben, ohne sich zugleich entsprechende Unterstellungen einzuhandeln. Doch die Eiferer dürfen für uns kein Gradmesser sein.

Heikel ist die Lage für Deutschland. Einerseits sind wir erklärtermaßen der regelbasierten internationalen Ordnung verpflichtet, zu der die strikte Einhaltung des Völkerrechts gehört. Andererseits ist Deutschland aus historischen Gründen bei allen Fragen, die Israel betreffen, verständlicherweise besonders sensibel. Doch nun fällt uns die von Angela Merkel 2008 vor der Knesset verkündete Staatsräson auf die Füße [3], denn sie kollidiert möglicherweise mit dem Völkerrecht. Altbundespräsident Joachim Gauck hat es 2012 prophezeit: "Das 'Staatsräson'-Wort könne die Bundeskanzlerin noch in 'enorme Schwierigkeiten' bringen." [4] Genau das scheint jetzt einzutreten, trifft allerdings die Bundesregierung unter Merkels Nachfolger Olaf Scholz. Die juristisch unverbindliche Selbstverpflichtung (Staatsräson) gerät in Konflikt mit dem juristisch verbindlichen Völkerrecht (vgl. Artikel 25 GG).

Kein leicht aufzulösender Widerspruch, falls der Internationale Strafgerichtshof tatsächlich Haftbefehle gegen Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant erlassen sollte. Denn dass angesichts der monströsen Verbrechen der Nazi-Zeit ausgerechnet Deutschland den israelischen Premierminister verhaften könnte, sobald er Bundesgebiet betritt, kann man sich eigentlich kaum vorstellen. Gleichwohl wäre Deutschland (IStGH-Vertragsstaat seit Dezember 2000) nach internationalem Recht dazu verpflichtet. Eine politische Zwickmühle ohnegleichen.

Die Haftbefehlsanträge werden hierzulande zum Teil mit an den Haaren herbeigezogenen Argumenten kritisiert. Nehmen wir etwa Jürgen Hardt, den außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Hardt beklagt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: "Ich finde die Art und Weise, wie der Antrag vorgetragen wurde, sehr befremdlich. Es lässt die Zweifel offen, ob wirklich die reine staatsanwaltschaftliche Unabhängigkeit der Antrieb ist oder andere Motive. Ich wundere mich, dass ganz viele andere, zum Beispiel der syrische Machthaber Assad in der Nachbarschaft oder auch Maduro in Venezuela, diejenigen, die massenhaft Menschen auf dem Gewissen haben, in Sudan usf., dass die alle ungeschoren davonkommen, wenn man so will, im Blick auf den Internationalen Gerichtshof. Aber dass sich der Bannstrahl nun Richtung Netanjahu und seinen Verteidigungsrichter richtet, das ist harter Tobak." [5]

Dass Jürgen Hardt "andere Motive" insinuiert, ist typisch für die Diskussion. Wenn man keine juristischen Gegenargumente hat, greift man eben - wie Netanjahu - die Person an. Eine altbekannte Taktik. Aber dass der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion anscheinend noch nicht einmal die Basics des IStGH kennt, ist haarsträubend. Der Internationale Strafgerichtshof ist nämlich nur für Vertragsstaaten und deren Staatsangehörigen zuständig (Territorialitätsprinzip, aktives Personalitätsprinzip). Oder wenn der UN-Sicherheitsrat eine Angelegenheit an den IStGH überweist (Artikel 13 des römischen Statuts), dann gelten keine Beschränkungen, was den Ort und die handelnden Personen angehen.

Die Bundeszentrale für politische Bildung erläutert: "Die Initiative für ein Verfahren vor dem IStGH kann von einem Vertragsstaat, dem UN-Sicherheitsrat oder dem Ankläger ausgehen. Wenn ein Vertragsstaat eine Situation beobachtet, in der es den Anschein hat, dass Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen begangen wurden, kann er diese Situation dem Ankläger unterbreiten. Darüber hinaus kann der Ankläger Ermittlungen auch aus eigener Initiative einleiten. In beiden Fällen ist jedoch zu beachten, dass der Gerichtshof seine Jurisdiktion nur dann ausüben darf, wenn die fragliche Tat entweder auf dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates begangen wurde oder wenn der mutmaßliche Täter die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaates besitzt. Die genannten Beschränkungen für die Ausübung der Gerichtsbarkeit gelten jedoch nicht, wenn der Sicherheitsrat eine Situation nach Kapitel VII der UN-Charta an den IStGH überweist. Auf diesem Wege kann selbst gegen Angehörige von Nichtvertragsstaaten ermittelt werden. Allerdings ist eine solche Überweisung nur denkbar, wenn keines der fünf ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat (USA, Vereinigtes Königreich, Frankreich, Russland, China) ein Veto einlegt." [6]

Syrien ist kein Vertragsstaat des IStGH, doch eine Überweisung des UN-Sicherheitsrates ist bislang am Veto Russlands gescheitert, das Gericht ist daher leider nicht für die Verbrechen von Baschar al-Assad zuständig. Im Fall von Venezuela (IStGH-Vertragsstaat seit Juni 2000) führt der Chefankläger sehr wohl offizielle Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch. [7]

Karim Khan verfolgt auch weiterhin die Kriegsverbrechen in der sudanesischen Region Darfur, wie er 2023 vor dem UN-Sicherheitsrat bestätigte. [8] Rechtsgrundlage ist die  Resolution 1593 des UN-Sicherheitsrates vom 31.03.2005. Ob es aufgrund der aktuellen Situation in Bezug auf den ganzen Sudan ebenfalls eine Überweisung vom UN-Sicherheitsrat geben wird, bleibt abzuwarten (Sudan ist kein IStGH-Vertragsstaat, eine Überweisung somit unerlässlich). Und hat Hardt den Haftbefehl gegen den früheren Machthaber des Sudan, Omar al-Baschir, etwa vergessen?

Der Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin beruht auf der Grundlage der ukrainischen Ad-hoc-Anerkennung (Artikel 12 Abs. 3 des Römischen Statuts) und weil die Kriegsverbrechen bzw. die Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf ukrainischem Staatsgebiet stattgefunden haben. Russland selbst ist kein IStGH-Vertragsstaat, Palästina indes seit 2015. Letzteres ist die Rechtsgrundlage für die beantragten Haftbefehle gegen die beiden israelischen Regierungsmitglieder und drei führende Mitglieder der Terrororganisation Hamas.

Zugegeben, die Gemengelage ist komplex. Aber dass der Internationale Strafgerichtshof, wie Jürgen Hardt beklagt, selektiv tätig ist, ist keineswegs die Schuld des IStGH, sondern liegt oft schlicht und ergreifend an der fehlenden Rechtsgrundlage. So viel gedankliche Differenziertheit muss sein. Weiß Hardt es nicht oder verschweigt er es? Das eine wäre für den außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion genauso schlecht wie das andere. Die Voreingenommenheit ist jedenfalls mit den Händen zu greifen und insofern kontraproduktiv. Grundsätzlich gilt: Eine bedingungslose Solidarität, sogar über mutmaßliche Kriegsverbrechen hinweg, darf es nicht geben. Wer die Diskussion darüber abwürgen und die gerichtliche Klärung des Sachverhalts verhindern möchte, tut weder sich noch Israel einen Gefallen.

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[2] tagesschau.de vom 21.05.2024
[3] Bundesregierung, Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor der Knesset am 18. März 2008 in Jerusalem
[4] Die Welt vom 29.05.2012
[5] Deutschlandfunk vom 21.05.2024
[6] Bundeszentrale für politische Bildung, Der Internationale Strafgerichtshof, PDF-Datei mit 1,1 MB
[7] Amnesty International, Amnesty Report Venezuela 24.04.2024
[8] tagesschau.de vom 14.07.2023