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04. Juni 2024, von Michael Schöfer
Ernstgemeinte Frage


Dass die Aggressivität in der Gesellschaft generell größer geworden ist, darf nicht hingenommen werden. Im aktuellen Wahlkampf kocht insbesondere die Gewalt gegen Politiker und Parteien hoch, das ist absolut inakzeptabel und beschädigt die Demokratie. Viele rätseln, woher das kommt, aber auf die Frage nach den Ursachen bekommt man unterschiedliche Antworten. Wobei das Ganze m.E. ohnehin nicht monokausal auf eine einzige Ursache zurückzuführen ist, vielmehr ist wohl ein Mix an Motiven verantwortlich. Ein Grund ist die Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger von ihren Volksvertretern. Häufig haben sie nämlich den Eindruck, dass sich nichts tut und hauptsächlich Partikularinteressen bedient werden.

Ein Beispiel, über das ich per Zufall gestolpert bin: "Verwaltung straffen statt Bürokratie vermehren", versprechen CDU und CSU in ihrem gemeinsamen Wahlprogramm. "Wirtschaftliche Dynamik und Innovationsfähigkeit dürfen nicht an staatlicher Überreglementierung und bürokratischer Lähmung scheitern. CDU und CSU werden sich daher weiterhin für eine Rückführung staatlicher Aufgaben auf allen Ebenen einsetzen, wo immer dies möglich ist. Wir wollen durch Deregulierung, Privatisierung und Verwaltungsvereinfachung neue Freiräume für Privatinitiative eröffnen." Klingt aktuell, ist aber ein Zitat aus dem Bundestagswahlprogramm von 1994. [1] Damals regierte ein gewisser Helmut Kohl.

In den 34 Jahren seit der Wiedervereinigung stellte die Union insgesamt 24 Jahre den Bundeskanzler (1990-1998 = 8 Jahre Helmut Kohl, 2005-2021 = 16 Jahre Angela Merkel). Und angesichts dessen fragt man sich schon, warum es nichts wird mit dem Bürokratieabbau, sondern offenbar ständig mehr Bürokratie dazukommt. Fällt sie etwa vom Himmel herab? Bürokratieabbau steht auch im aktuellen Europawahlprogramm der CDU: "Die Wirtschaft Europas muss wettbewerbsfähig bleiben. Damit das gelingt, braucht es bessere Rahmenbedingungen für Industrie und Mittelstand und unnötige Bürokratie muss abgebaut werden." [2] Ist das glaubwürdig? Vor allem, wenn man berücksichtigt, dass es ja gerade die Politiker selbst sind, die die Bürokratie in den Parlamenten beschließen oder, im umgekehrten Fall, aus eigener Kraft tatsächlich reduzieren könnten. Dazu braucht es lediglich entsprechende Gesetze.

Das Gleiche beim Wohnungsbau und den Mieten. "Eine ausreichende und kostengünstige Wohnungsversorgung zu sichern, ist eine vorrangige Aufgabe in Deutschland", bekunden CDU und CSU in ihrem Bundestagswahlprogramm. [3] Super! Genau das, was wir brauchen. Nur ist das ebenfalls ein Zitat aus alten Tagen, und zwar aus dem Jahr 1990. Warum werden dann immer weniger Wohnungen gebaut? Und obendrein immer weniger bezahlbare Wohnungen? 2023 wurden in Deutschland 294.400 Wohnungen gebaut - 0,3 Prozent weniger als im Jahr zuvor. [4] Wenn wir das erste Amtsjahr außer Acht lassen (die Amtsübernahme war schließlich jeweils im Herbst) wurden in den fünf Jahren unter Willy Brandt (1970-1974) insgesamt 3,01 Mio. Wohnungen gebaut, im Schnitt pro Jahr also ca. 600.000. Allein in Westdeutschland, wohlgemerkt. Angela Merkel schaffte in sechzehn Amtsjahren (2006-2021) 3,79 Mio., im Schnitt pro Jahr ca. 237.000. Und das in ganz Deutschland.

Warum schafft es das inzwischen viel reicher gewordene Land nicht, mindestens auf die gleiche Anzahl von Wohnungen zu kommen wie unter Willy Brandt? Stattdessen lesen wir von stark steigenden Mieten und über Spitzen-Renditen der Investoren einerseits [5] sowie von Demonstrationen verzweifelter Mieter andererseits [6]. Vor kurzem habe ich darauf hingewiesen, dass der Deutsche Mieterbund bereits seit den achtziger Jahren vor fehlenden Wohnungen und stark steigenden Mieten warnt. [7] Was ist passiert? Was hat die Politik getan? Anscheinend nichts! Im Gegenteil, es wird immer schlimmer. Man will die Bausünden der siebziger Jahre nicht wiederholen? Ich sage: Lieber eine Bausünde als gar keine Wohnung.

Wie lange spricht man schon über serielles und modulares Bauen bzw. die bundeseinheitliche Baugenehmigung für bestimmte Gebäudetypen? Seit Jahren! "Serielles und modulares Bauen bietet viele Möglichkeiten, insbesondere schnelles, kostengünstiges und qualitativ hochwertiges Bauen", hieß es 2018 auf einem vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) veranstalteten Fachkongress. [8] Anne Katrin Bohle, Staatssekretärin im BMI, bekräftigte 2019: "Dem Bund ist es wichtig, das serielle und modulare Bauen zu fördern. Mit ihrem Potential können diese Bauweisen bei den aktuellen Wohnraumherausforderungen einen wesentlichen Beitrag leisten." [9] Und was ist seitdem passiert? Oh, sicherlich, es gibt genug Absichtserklärungen. Sehr viele sogar (siehe oben). Leider lassen nach wie vor die Ergebnisse auf sich warten. Projekte, die nicht realisiert werden, helfen keinem. Vielleicht klappt's ja bis 2030, wenn die übernächste Bundesregierung, wer immer das dann sein wird, im Amt ist. Ob die Mieter und Wohnungssuchenden solange Geduld haben?

Nun würde ich nie so weit gehen, die AfD zu wählen. Und natürlich ebenso wenig, meinen Frust in Form von Gewalt an Politikern auszulassen. Das wäre undemokratisch und kriminell. Gewalt hat in der politischen Auseinandersetzung nichts zu suchen, ich setze allein auf die Kraft der Argumente und mein Kreuz in der Wahlkabine. Gleichwohl treibt mich diese nervtötende Lethargie der Politiker und die offenkundige Bevorzugung bestimmter Interessen (Wohnungsunternehmen, Investoren, Besserverdienende) echt auf die Palme. Die Wut auf die Politik kann ich deshalb gut nachvollziehen. Ernstgemeinte Frage: Was soll ein normaler, vergleichsweise einflussloser Bürger, der sich keine 30.000 Euro-Spende an eine Partei leisten kann und demzufolge bei hochrangigen Politikern auch keinen Termin bekommt [10], tun?

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[1] Konrad-Adenauer-Stiftung, 1994: Regierungsprogramm 1994 "Wir sichern Deutschlands Zukunft.", Seite 24, PDF-Datei mit 2,6 MB
[2] CDU, Freiheit, Sicherheit, Wohlstand
[3] Konrad-Adenauer-Stiftung, Wahlprogramm 1990 "Ja zu Deutschland – Ja zur Zukunft.", Seite 8, PDF-Datei mit 1,4 MB
[4] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 203 vom 23.05.2024
[5] tagesschau.de vom 04.06.2024
[6] rbb vom 01.06.2024
[7] siehe Manches ändert sich offenbar nie vom 06.05.2024
[8] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung, Fachkongress "Serielles und modulares Bauen" des BMI vom 13.09.2018
[9] Baukammer Berlin vom 23.10.2019
[10] siehe wdr.de vom 15.05.2024