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| Impressum 05. Juni 2024, von Michael Schöfer Vorabbericht der Expeditionsleitung Die wissenschaftliche Forschungsmission ist nach einer viele Lichtjahre überbrückenden Reise erfolgreich auf dem Planeten 28384/3 SCO gelandet, aber wie bereits unsere Weisen befürchtet hatten, sind wir tatsächlich zu spät gekommen. Die Hochkultur des Homo sapiens ist vom Planeten verschwunden, seine Existenz vollständig ausgelöscht worden. Was von ihm übrig blieb, sind lediglich ein paar Artefakte. Es ist noch wenig erforscht, was zu seinem Ende führte, aber es kristallisiert sich aus den bruchstückhaften Funden eine Theorie heraus, die wir inzwischen für die wahrscheinlichste halten. Was nämlich irdischen Forschern zeitlebens verborgen blieb, konnten wir mit unserer fortschrittlicheren Technik herausfinden. Ein winziger, leicht zu übersehender Erreger hatte diese Art schon zu jener Zeit befallen, als sie noch überwiegend auf den Bäumen lebte. Unlängst konnten wir mithilfe konservierter Gehirne aus einer teilweise unversehrt gebliebenen Forschungseinrichtung Reste seiner Erbmoleküle entschlüsseln. Hatte der Erreger erst einmal die Blut-Hirn-Schranke überwunden und war ins zentrale Nervensystem des Homo sapiens vorgedrungen, mutierte der - nach irdischen Maßstäben - intelligente Primat zu einem aggressiven und rücksichtslosen, aber letztlich, wenn man ihn am Selbsterhaltungsgebot misst, erstaunlich dummen Wesen. Dass er mit seinem egoistischen Verhalten die Ökosphäre zerstörte, von der sein Überleben abhing, ist dem Homo sapiens durchaus bekannt gewesen, trotzdem konnte er sich bis zuletzt nicht zu einer nachhaltigen Lebensweise überwinden. Im Gegenteil, obgleich auf dem Höhepunkt seiner technischen Entwicklung an jedem Erdentag ungefähr 150 Arten der übrigen Planetenmitbewohner ausstarben, hat er sich bis zum Schluss für ein Fortbewegungsmittel stark gemacht, das er anscheinend sehr geliebt hat. Jedenfalls mehr als seine Planetenmitbewohner. Er nannte das Fortbewegungsmittel liebevoll "Verbrenner". Vermutlich trug es auch zu seiner religiösen Erbauung bei, darauf weist zumindest der aufgefundene Schnipsel eines Gesangbuches hin: "Oh Lord, won't you buy me a Mercedes Benz?" Dem erhalten gebliebenen amtlichen Stimmzettel der Kommunalwahl in Mannheim zufolge (Erdenzeit: 9. Juni 2024) gab es sogar eine Wahlliste, die sich den Namen "Schützt die Autos" gab. Ganz so, als ob nicht die biologischen Arten auf der Roten Liste gefährdet wären, sondern die vom Homo sapiens gesteuerten Blechbüchsen. Man kann es kaum glauben. Doch der scheinbar völlig unsinnige Vorgang hat uns die visuellen Sinnesorgane geöffnet, denn diese eklatante Verwirrung des Geistes war nur durch den Befall mit einem Erreger zu erklären. Allein aus sich heraus wäre der ursprünglich recht putzige Primat höchstwahrscheinlich kaum zu dieser pathologischen Destruktivität fähig gewesen. Anfangs brachte ihm die Aggressivität gegenüber seinesgleichen zweifellos Vorteile, schließlich half sie ihm beim Überlebenskampf mit Konkurrenten. Dabei taten sich besonders die Europäer (irdische Eigenbezeichnung) hervor, die andernorts zahlreiche Populationen dezimierten oder gleich ganz ausrotteten. Kurios: Obwohl die Europäer viele Kontinente eroberten (Nordamerika, Südamerika, Australien) bzw. längere Zeit ausbeuteten (Asien, Afrika), wehrten sie sich später heftig gegen den vergleichsweise kleinen Zustrom von Migranten. Letztlich haben ihm aber die selbst angezettelten Kriege (innerstaatliche sowie zwischenstaatliche) den Garaus gemacht. Fragmente von Dokumenten legen nahe, dass eine menschliche Erfindung, er nannte sie "Internet" (wir suchen noch nach ihrem eigentlichen Zweck), dabei als Brandbeschleuniger wirkte. Soweit wir das zurückverfolgen können, hat das Internet die menschliche Aggressivität mindestens um den Faktor 10 gesteigert. Ob am Ende durchgeknallte Autokraten oder die zahlreich auftretenden Querdenker (irdisches Schimpfwort) zum gesellschaftlichen Kollaps führten, entzieht sich unserer Kenntnis. Diese Aufklärung müssen wir künftigen Forschungsmissionen überlassen. Was wir aber schon jetzt sagen können, ist, dass es der innerartlichen Aggression gar nicht bedurft hätte, weil die Ökosphäre von 28384/3 SCO ohnehin bereits kurz vor dem Zusammenbruch stand. Hätte der Homo sapiens das eine überlebt, hätte ihn bestimmt das andere dahingerafft. Wie bei jeder Infektion erwiesen sich auch in diesem Fall einzelne Exemplare der Art als immun, allerdings war diese Gnade nur wenigen Individuen vergönnt. In den nicht zu Staub zerfallenen Archiven des Homo sapiens konnten wir immerhin einzelne Namen identifizieren. So müssen in der industriell geprägten Epoche des Menschen Mahatma Gandhi und Albert Schweitzer besonders friedliebende Vertreter ihrer Art gewesen sein. Zwei Jahrhunderte zuvor schrieb ein gewisser Immanuel Kant ein Buch, das den markanten Titel "Zum ewigen Frieden" trug. Leider ist bloß der Titel überliefert, der Text indes verlorengegangen. Soweit wir das eruieren konnten, war Kant einer der größten Philosophen der Menschheit. Philosophie definierte sie als "Liebe zur Weisheit". Warum die Menschheit dann seiner Weisheit nicht gefolgt ist, war in Ermangelung des Textes nicht mehr nachzuvollziehen. Erhalten geblieben ist dagegen der Satz eines Mannes, der sich William Shakespeare nannte und wiederum zweihundert Jahre vor Kant gelebt haben soll. Doch selbst die irdischen Gelehrten waren unsicher, ob er unter diesem Namen wirklich existierte. Wie dem auch sei, jedenfalls fasste dieser Shakespeare die gesamte Geschichte der Menschheit, vom Anbeginn bis zu ihrem tragischen Ende, in einem einzigen Satz zusammen: "Das ist die Seuche dieser Zeit, Verrückte führen Blinde." Einfach genial. Freilich hat auch das nichts am Schicksal des Homo sapiens geändert. Dieser Bericht wird lange vor unserer physischen Rückkehr ankommen. Und falls es unsere Weisen für notwendig halten sowie als gewinnbringend einstufen, die Hochkultur des Homo sapiens wenigstens nachträglich zu erforschen, empfehlen wir die Entsendung weiterer Forschungsexpeditionen. Unserer Einschätzung nach wäre es jedoch viel besser, diesem geschundenen Planeten mehrere Millionen Jahre Erdenzeit Erholung zu gönnen. Vielleicht entwickelt sich ja hier irgendwann einmal eine echte intelligente Lebensform. |