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08. Juni 2024, von Michael Schöfer
Die Farce droht sich zu wiederholen


"Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass unser heutiges Europa sterblich ist. Europa kann sterben. Es kann sterben, und das hängt einzig und allein von unseren Entscheidungen ab", warnte der französische Präsident Emmanuel Macron im April in seiner Rede an der Pariser Sorbonne. [1] Stimmt absolut, Europa (die liberale Demokratie) ist derzeit von innen (Rechtsextreme) wie von außen (Russland) bedroht. So prekär war die Lage seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie.

Was Macron, der sich gerne als Europa-Enthusiast präsentiert, selbst zum Zerfall der Demokratie beiträgt, verschweigt er freilich. Nehmen wir etwa die gerade stattfindende Europawahl, hier droht sich nämlich die Farce von 2019 zu wiederholen. Wir erinnern uns: Die aussichtsreichsten Spitzenkandidaten waren seinerzeit Manfred Weber von der konservativen EVP und der Sozialdemokrat Frans Timmermans, doch am Ende zog Macron unter tätiger Mithilfe von Angela Merkel zur großen Überraschung des Wahlvolks plötzlich Ursula von der Leyen aus dem Hut. Von der Leyen stand aber auf keinem einzigen Wahlvorschlag, sie ist damals gar nicht zur Europawahl angetreten, regiert aber trotzdem seit fünf Jahren die Europäische Union. Spitzenkandidaten? Ätsch, ätsch!

Kurios: 2024 haben wir eine Spitzenkandidatin, die gar nicht kandidiert. Jedenfalls auf keinem Wahlvorschlag, über den das Wahlvolk befindet. Kein Wähler kann darüber mitentscheiden, ob Ursula von der Leyen weiterhin die EU-Kommission führen soll. Das muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen: Europa könnte dann zehn Jahre lang von einer Politikerin geführt werden, die dafür nie das Plazet des Wählers erhielt und offenbar auch zu feige war, sich dem Votum des Wählers zu stellen. Wählen bedeutet Auswahl, und natürlich kann man dabei auch durchfallen. Nun, so demokratisch war die Demokratie anscheinend in den Augen des Establishments nie gemeint.

Aber es kommt vielleicht sogar noch kurioser: Man munkelt, Emmanuel Macron sei mittlerweile von der Leyen überdrüssig, nach der Europawahl würde er deshalb den ehemaligen italienischen Regierungschef und früheren EZB-Präsidenten Mario Draghi als Kommissionspräsidenten vorschlagen. Die Farce von 2019 droht sich also tatsächlich zu wiederholen, denn Mario Draghi kandidiert 2024 ebenso wenig wie von der Leyen. Überflüssig zu erwähnen, dass Draghi Italien 2021/2022 ebenfalls ohne Wählervotum regierte, er ist solche Hinterzimmer-Deals also gewohnt.

Emmanuel Macron hat vollkommen recht, Europa kann sterben, und zwar genau durch solche undemokratischen Machenschaften. Wenn man die Demokratie lediglich simuliert und der Wähler kaum Einfluss auf die politischen Entscheidungen hat (das EU-Parlament darf ja noch nicht einmal eigene Gesetzentwürfe einbringen), braucht man sich über den Zerfall der Demokratie nicht zu wundern.

Macrons Rede an der Pariser Sorbonne richtete sich offiziell ans Publikum, aber eigentlich war er selbst der Adressat. Denn vordergründig die Demokratie verteidigen, Personalentscheidungen hingegen im Hinterzimmer auskungeln (d.h. am Wahlvolk vorbei), passt einfach nicht zusammen. Emmanual Macron ist der Vertreter eines Europas der Eliten schlechthin. Eines Europas, von dem sich die Menschen angewidert abwenden und für das sie sich verständlicherweise nicht mehr engagieren wollen. Wozu auch, sie dürfen ja nur eingeschränkt mitbestimmen?

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[1] Elysee, Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron über Europa vom 25.04.2024