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09. Juni 2024, von Michael Schöfer
Jammern gehört zum üblichen Handwerkszeug


Die eigene Lage als prekär darzustellen ist weder verboten noch unseriös. Das machen alle Interessenverbände, ob Arbeitgeber oder Gewerkschaften, schließlich geht es ihnen darum, bei der Politik oder beim Tarifpartner etwas für die eigene Interessengruppe herauszuholen. Dabei kann auch Unterstützung in der Bevölkerung nie schaden, insofern gehört Jammern zum üblichen Handwerkszeug. Und das ist absolut in Ordnung.

Ärgerlich ist jedoch, wenn die Fakten nicht stimmen, weil dann beim mehr oder weniger geneigten Publikum ein falscher Eindruck entsteht. Um nicht missverstanden zu werden, will ich noch einmal den ausschlaggebenden Unterschied erläutern: Dass man Fakten in seinem Sinne interpretiert, ist vollkommen normal. Wer dabei aber die Fakten falsch darstellt, wird sich Fragen nach seiner Seriosität gefallen lassen müssen. Und wer oft unseriös erscheint, wird über kurz oder lang nicht mehr ernst genommen.

In der Süddeutschen Zeitung ist am 8. Juni 2024 ein Interview mit Handwerkspräsident Jörg Dittrich erschienen, das bei mir allerdings Irritationen ausgelöst hat. [1] Dittrich sagt darin auf die Frage nach den bürokratischen Regelungen, die den Betrieben am meisten Ärger machen: "Beispiel Lieferkettengesetz: Niemand will, dass Kinder ausgebeutet werden. Wie aber soll ein kleiner Handwerksbetrieb kontrollieren, ob irgendein Vorprodukt etwa in Bangladesch mit Kinderarbeit hergestellt wurde. Das kann vielleicht ein Weltkonzern, aber kein Kleinunternehmen."

Wenn man allerdings in den Gesetzen nachsieht, greift das deutsche Lieferkettengesetz erst ab einer Mitarbeiterzahl von 1.000 Beschäftigen. [2] Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) weist ausdrücklich darauf hin: "Kleinere Unternehmen und ausländische Zulieferer fallen nicht unter das Gesetz… (...) Ausländische Zulieferer fallen nicht direkt unter das Gesetz. Wenn sie aber Vertragspartner von großen deutschen Unternehmen sind oder dies werden möchten, sollten sie sich darauf einstellen, dass die Abnehmer Informationen von ihnen anfordern, die mit der Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards in der Lieferkette zusammenhängen." [3]

Die im April 2024 vom EU-Parlament beschlossene EU-Lieferkettenrichtlinie muss erst noch in nationales Recht überführt werden, gilt aber ebenfalls erst ab 1.000 Beschäftigten und zusätzlich ab einem Netto-Jahresumsatz von 450 Millionen Euro. Obendrein sieht sie ein gestaffeltes Inkrafttreten in drei Phasen vor. [4]

Der Zentralverband des Deutschen Handwerks führt auf der Grundlage der Strukturdaten des Statistischen Bundesamtes selbst auf, dass 2021 lediglich 2,4 Prozent der Handwerksunternehmen 50 und mehr Beschäftigte hatten. [5] Und bloß 3,4 Prozent erwirtschafteten einen Umsatz von 5 Mio. Euro und mehr. [6] "Das Handwerk ist besonders durch kleine und mittlere Unternehmen (KMU) geprägt. Im Jahr 2021 zählten im zulassungspflichtigen und zulassungsfreien Handwerk 99,6 % der Handwerksunternehmen zu den KMU", schreibt das Statistische Bundesamt. [7]

Mit anderen Worten: Der von Dittrich erwähnte "kleine Handwerksbetrieb" ist vom Lieferkettengesetz in keinster Weise betroffen. Er baut folglich einen Popanz auf, der in Wahrheit für die von ihm repräsentierten Unternehmen gar nicht existiert. Es dürfte hierzulande keinen einzigen Handwerksbetrieb geben, der von der Mitarbeiterzahl und vom Umsatz her überhaupt annähernd in die vom deutschen oder europäischen Lieferkettengesetz genannte Größenordnung fällt.

Irritierend an dem Interview ist für mich zweierlei: Erstens, dass Handwerkspräsident Jörg Dittrich entweder die Fakten nicht kennt oder bei den Leserinnen und Lesern der Süddeutschen bewusst einen falschen Eindruck erwecken will. Beides wäre für die Reputation des höchsten Repräsentanten des Zentralverbands des Deutschen Handwerks von Nachteil. Zweitens, dass Claus Hulverscheidt von der Süddeutschen nicht kritisch nachgehakt hat. Bei einem "Leitmedium, das öffentliche Meinung mit gutem Journalismus prägt" (SZ-Eigenwerbung) erwarte ich da offen gesagt mehr. Stichwort: Qualitätsjournalismus.

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[1] Süddeutsche Zeitung vom 08.06.2024, Printausgabe Seite 23, online Paywall
[3] Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, Seite 1 und 2, Hervorhebung von mir, PDF-Datei mit 395 KB
[5] ZDH, Verteilung der Handwerksunternehmen nach Beschäftigtengrößenklassen 2021, PDF-Datei mit 132 KB
[6] ZDH, Verteilung der Handwerksunternehmen nach Umsatzgrößenklassen 2021, PDF-Datei mit 127 KB
[7] Statistisches Bundesamt, Handwerk Strukturdaten 2021