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10. Juni 2024, von Michael Schöfer
Ich sehe schwarz!


Die Europawahlen und die gleichzeitig über die Bühne gegangenen Kommunalwahlen waren wegen der deutlichen Rechtsverschiebung zweifellos ein Schock. In Ostdeutschland bleibt der Eindruck zurück, dass es den Menschen offenbar vollkommen egal ist, ob sie von Rechtsextremisten regiert werden oder nicht. In Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen wurde die AfD jeweils stärkste Partei. Im thüringischen Hildburghausen konnte bei der Wahl des dortigen Landrats ein Neo-Nazi in der Stichwahl seine Stimmenzahl sogar noch ausbauen und kam auf erschreckende 30,5 Prozent. Selten gab es an den Wahlurnen so viel Zustimmung für die Feinde der Demokratie. Ein Menetekel für die Landtagswahlen im Herbst.

In Westdeutschland ist die Lage zwar nicht ganz so dramatisch, aber dennoch keineswegs berauschend. Die Tu-nix-Parteien (ehedem Ampel) wurden fast überall abgestraft. Und die anderen Tu-nix-Parteien (ehedem Union) drängen sich nicht gerade als verheißungsvolle Alternative auf. Von den Ergebnissen in Italien (Melonis Fratelli d'Italia 28,6 %) und Frankreich (Le Pens Rassemblement National 31,4 %) ganz zu schweigen. Zu allem Überfluss hat Emmanuel Macron auch noch Neuwahlen zur Nationalversammlung angeordnet. Es bleibt sein Geheimnis, was er sich davon verspricht. Er hat doch erst im Januar mit der Ernennung des neuen Premierministers Gabriel Attal einen denkbaren Nachfolger aufzubauen versucht. Will er die absehbare rechte Mehrheit rechtzeitig vor den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2027 entzaubern? Ein Vabanquespiel.

Man muss die Probleme der Menschen lösen, hört man es jetzt wieder aus allen Ecken rufen. Das ist nicht falsch, wird aber ausgerechnet von denen gefordert, die seit langem für den lähmenden Stillstand verantwortlich sind: Regierung UND Opposition. Oder sind etwa die Merkel-Jahre schon in Vergessenheit geraten? Um ein Beispiel herauszugreifen: Bei den Parteien, die sich bereits in der Vergangenheit als unfähig erwiesen, die grassierende Wohnungsnot und die Mietpreisexplosion zu bekämpfen, kann man wohl jede Hoffnung auf Besserung aufgeben. Nach wie vor versuchen sie es mit den längst gescheiterten Rezepten. Ein bisschen Kosmetik hier, ein bisschen Kosmetik da, doch keine erkennbare Politikwende.

Im brandneuen Grundsatzprogramm der CDU steht dazu: "Es braucht mehr und bezahlbaren Wohnraum. Das beste Mittel für bezahlbaren Wohnraum ist der Bau neuer Wohnungen und das Ausschöpfen vorhandener Potenziale im Baubestand. Damit sich das Angebot an Wohnungen erhöht, wollen wir das Bauen und Sanieren erleichtern und günstiger machen. Dafür brauchen wir bessere Rahmenbedingungen wie mehr Bauland, weniger Auflagen und Regelungen im Bauordnungsrecht und schnellere Genehmigungen, die vollständig digital abgewickelt werden. Enteignungen und Markteingriffe wie Mietendeckel lehnen wir ab. Der soziale Wohnungsbau muss solide gefördert und das Wohngeld indexiert werden, damit Mieten bezahlbar bleiben."

Bla, Bla, Bla. Kommt Ihnen das bekannt vor? Mir auch! Die Union hat schon in ihrem Bundestagswahlprogramm 1990 "eine ausreichende und kostengünstige Wohnungsversorgung" versprochen. Nach eigenem Bekunden hat sie es in den neunziger Jahren auch geschafft. Kleiner Wermutstropfen: Die Menschen haben davon leider nichts gemerkt. Selbst wenn die Union jetzt wider Erwarten die Ampel ablösen würde, erwarten Sie dadurch wirklich eine tiefgreifende Änderung? Vermutlich nicht. Ich ebenso wenig. Und so ist das bei vielen Themen: Viel Gerede, kaum Taten, keine echte Hilfe. Die Phrasen der Politiker hängen mir zum Hals heraus! Ich kann sie nicht mehr hören!

Für tiefgreifende Änderungen fehlen in Deutschland die politischen Mehrheiten, schon allein wegen dem grundsätzlich zu befürwortenden Föderalismus. Die Kakophonie ist immens. Obendrein kommt es ständig zu kuriosen Positionswechseln. Beispiel Klimapolitik: In der letzten Großen Koalition (Kabinett Merkel IV) hat die SPD der Union gegen deren hartnäckigen Widerstand die Zustimmung zur Verschärfung des Klimaschutzgesetzes abgerungen. Den Grünen, damals in der Opposition, waren die Klimaziele der schwarz-roten Bundesregierung allerdings zu unambitioniert. Die rot-grün-gelbe Ampelkoalition hat das Klimaschutzgesetz jedoch auf Wunsch der FDP aufgeweicht anstatt weiter es zu verschärfen und fällt damit sogar hinter den Stand der Großen Koalition zurück. Die SPD, die es nur mit Mühe gegen CDU/CSU durchgesetzt hat, spielt dabei ohne zu murren mit. Die Grünen, die ja ursprünglich viel mehr vorhatten, genauso. Und die Union, die sich 2021 noch mit Händen und Füßen gegen härtere Klimaschutzauflagen gewehrt hat, spricht sich plötzlich für die Beibehaltung derselben aus. Dieses wilde Durcheinander, das natürlich weniger von Überzeugungen, sondern mehr durch gnadenlosen Opportunismus geprägt sein dürfte, ist charakteristisch für die deutsche Politik. Es geht bloß um die Macht - und um nichts anderes.

Wenn alle Politiker, die jetzt fordern, dass man dringend etwas ändern müsste, es in der Vergangenheit auch getan hätten, gäbe es wahrscheinlich keinen Rechtsruck. Und wenn ich mir das Politikergeschwätz des gestrigen Wahlabends in Erinnerung rufe, habe ich nicht den Eindruck, als wären sie zur Besinnung gekommen. Ich würde so gerne hoffen, sehe aber ehrlich gesagt ziemlich schwarz.