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11. Juni 2024, von Michael Schöfer
Kann Friedrich Merz nicht rechnen?


CDU-Vorsitzender Friedrich Merz gilt ja gemeinhin als Mann der Vergangenheit, gerade deshalb sollte ihm eigentlich der Begriff "Ausschließeritis" bekannt sein. Andrea Ypsilanti erlebte damit 2008 in Hessen ein Debakel, das mittlerweile als klassische Vorlage für die Probleme der Ausschließeritis dient. Dennoch scheint Merz daraus keine Konsequenzen gezogen zu haben. Mit Ausschließeritis ist gemeint, dass man vor der Wahl Bündnisse mit bestimmten Parteien kategorisch ausschließt und deshalb nach der Wahl große Probleme hat, eine Regierung zu bilden. Natürlich können Politiker nach dem Motto "Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern" handeln, was aber bei den Wählerinnen und Wählern ausgesprochen schlecht ankommt. Wortbrüche sind obendrein ein furchtbar schlechter Auftakt der Legislaturperiode.

So gesehen hat es mich schon gewundert, dass sich Friedrich Merz nun gegen eine denkbare Koalition mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) ausspricht, insbesondere weil er dabei ausdrücklich einen Bezug zu den Landtagswahlen im September herstellt (Sachsen, Thüringen, Brandenburg). "Eine Koalition mit dem BSW - auch als potenzielles Gegengewicht zu möglichen Mehrheiten der AfD bei den im Herbst anstehenden Landtagswahlen in drei östlichen Bundesländern - schloss der CDU-Chef aus: 'Das ist völlig klar, das haben wir auch immer gesagt. Wir arbeiten mit solchen rechtsextremen und linksextremen Parteien nicht zusammen.' Für Wagenknecht gelte beides, betonte Merz: 'Sie ist in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem.'" [1]

Ob das politisch klug ist? Wie will er nach den Landtagswahlen von dieser Äußerung je wieder gesichtswahrend herunterkommen? Die Brandmauer zur AfD halte ich für ebenso richtig wie notwendig, aber ob das BSW in die gleiche Kategorie einzuordnen ist, bleibt vorerst offen. Nicht jede politische Position, die einem missfällt, ist rechts- oder linksextrem. Beim BSW kann man das derzeit sowieso noch nicht genau sagen, dazu ist die Partei viel zu jung. Allenfalls lassen sich von den bisherigen politischen Positionen bestimmter Parteimitgliedern Rückschlüsse ziehen. Doch Sahra Wagenknecht oder Fabio De Masi unter der Rubrik "Feinde der Demokratie" einzuordnen, ist m.E. ziemlich gewagt und außerdem unberechtigt.

Wie dem auch sei, wenn die Landtagswahlen im September so ausgehen wie derzeit prognostiziert, hat Merz' CDU ein gewaltiges Problem. Mit wem kann sie eine stabile Regierung bilden? Bei wem holt sie sich die Mehrheiten für die Gesetze und den Landeshaushalt? Es gilt ja nach wie vor der Unvereinbarkeitsbeschluss 8. Dezember 2018: "Die CDU Deutschlands lehnt Koalitionen und ähnliche Formen der Zusammenarbeit sowohl mit der Linkspartei als auch mit der Alternative für Deutschland ab." [2] Jetzt zählt dem CDU-Vorsitzenden zufolge auch das BSW dazu.

Sonntagsfrage Sachsen 2024
(Insa, Stand 19.03.2024, nur Parteien mit mindestens 5 %)
[3]
CDU 30 %
SPD 6 %
Grüne 5 %
Linke 5 %
AfD 34 %
BSW 11 %

Wenn Friedrich Merz in Sachsen eine Koalition mit AfD, Die Linke und BSW ausschließt, bleiben für die CDU nur SPD und Grüne übrig, die drei Parteien kämen gemeinsam auf 41 Prozent. AfD, Die Linke und BSW jedoch auf 50 Prozent.

Sonntagsfrage Thüringen 2024
(Insa, Stand 01.05.2024, nur Parteien mit mindestens 5 %)
[4]
CDU 20 %
SPD 7 %
Grüne 5 %
Linke 16 %
AfD 30 %
BSW 16 %

Wenn Friedrich Merz in Thüringen eine Koalition mit AfD, Die Linke und BSW ausschließt, bleiben für die CDU nur SPD und Grüne übrig, die drei Parteien kämen gemeinsam auf 32 Prozent. AfD, Die Linke und BSW jedoch auf 62 Prozent.

Sonntagsfrage Brandenburg 2024
(Insa, Stand 24.05.2024, nur Parteien mit mindestens 5 %)
[5]
CDU 19 %
SPD 19 %
Grüne 7 %
Linke 6 %
AfD 25 %
BSW 13 %
BVB/FW 5 %

Wenn Friedrich Merz in Brandenburg eine Koalition mit AfD, Die Linke und BSW ausschließt, bleiben für die CDU nur SPD, Grüne und BVB/FW übrig, die vier Parteien kämen gemeinsam auf 50 Prozent. AfD, Die Linke und BSW auf 44 Prozent. Besonders heikel für die Regierungsbildung: In Brandenburg stellt die SPD mit Dietmar Woidke den Ministerpräsidenten.

Sich mit den Feinheiten des jeweiligen Landeswahlrechts und den Landesverfassungen zu befassen, würde hier zu weit führen. Aber: Auch wenn die drei Landtagswahlen natürlich ihrer eigenen Logik folgen (z.B. die Beliebtheit des Ministerpräsidenten) und deshalb nicht genauso desaströs ausfallen müssen wie die Europawahl, leuchtet schon auf den ersten Blick ein: Die CDU kommt mit den denkbaren, vorher von ihr nicht ausgeschlossenen Koalitionspartnern in Sachsen und Thüringen nicht einmal annähernd an eine rechnerische Mehrheit heran. In Brandenburg sieht das freilich anders aus. Vielleicht klappt es ja noch bei der Wahl des Ministerpräsidenten, alle drei Landesverfassungen lassen dabei im zweiten (Sachsen) bzw. dritten Wahlgang (Brandenburg, Thüringen) die relative Mehrheit zu. Aber in zwei Bundesländern dürfte es nach dem heutigen Informationsstand bestenfalls für eine Minderheitsregierung reichen.

Angesichts dessen frage ich mich: Kann Friedrich Merz nicht rechnen? Oder baut er darauf, dass die CDU im Herbst wesentlich besser abschneidet? Wenn er sich da mal nicht verrechnet. Wahlen können durchaus besser, aber leider auch schlechter ausgehen als Umfragen. Die AfD könnte etwa in Ostdeutschland noch stärker werden und der ein oder andere in den Augen von Merz statthafte Koalitionspartner ein weiteres Wahldebakel erleben. Wenn beispielsweise SPD und Grüne in Sachsen oder Thüringen am Wahltag unter die 5-Prozent-Hürde rutschen, sieht es dort für die Machtoptionen der CDU noch düsterer aus, denn dann hat sie aufgrund der Ausschließeritis gar keinen potenziellen Bündnispartner mehr. Jedenfalls offiziell.

Momentan scheinen sich ohnehin sämtliche Gewissheiten aufzulösen, ich mag schon gar keine Prognose mehr abgeben. Doch neben der AfD andere Parteien ebenfalls von vornherein auszuschließen, wie es Friedrich Merz für angebracht hält, ist in der gegenwärtigen Situation eine politische Dummheit. Gegen die Feinde der Demokratie werden wir nämlich Notbündnisse zur Rettung der Demokratie brauchen. Notbündnisse, in denen sich Parteien zusammenschließen, die es normalerweise nicht tun würden.

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[1] tagesschau.de vom 11.06.2024
[2] CDU, Unsere Haltung zu Linkspartei und AfD, PDF-Datei mit 193 KB
[3] wahlrecht.de, Landtagswahlumfragen Sachsen
[4] wahlrecht.de, Landtagswahlumfragen Thüringen
[5] wahlrecht.de, Landtagswahlumfragen Brandenburg