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14. Juni 2024, von Michael Schöfer
Regierungsbeteiligung der Grünen eine Riesenenttäuschung


Das Regierungsviertel in Berlin ist wirklich eine Bubble, offenbar haben die Politiker den Kontakt zur Realität der Durchschnittsbürger verloren. Nein, es geht ausnahmsweise nicht um den "Nö"-Kanzler, sondern um die Grünen. Denen habe ich nämlich mitgeteilt, warum sie von mir am 9. Juni keine Stimmen mehr bekamen. Erstens wegen der Zustimmung zu den Haftzentren für Migranten an den EU-Außengrenzen, zweitens wegen dem Aufweichen des Klimaschutzgesetzes, und drittens weil die Ampelregierung viel zu wenig für die Mieter tut. Die Antworten auf die beiden erstgenannten Punkte sind nicht der Rede wert. Substanzloses Blabla, m.E. sogar ein bisschen peinlich für eine Regierungspartei. Aber bei der Antwort auf den von mir kritisierten Mangel an bezahlbarem Wohnraum hat es mir fast die Sprache verschlagen.

2024 investiere die Regierung 3,15 Mrd. Euro in den sozialen Wohnungsbau, bis 2027 seien es insgesamt 18,15 Mrd. Euro. Hinzu kämen die Fördermittel der Bundesländer. Und was die Mietkosten angeht: "Wir als GRÜNE unterstützten die Mieter*innen im Energiebereich allerdings durchaus: Am 1. Januar 2023 ist das Kohlendioxidkostenaufteilungsgesetz in Kraft getreten. Zweck dieses Gesetzes ist die Aufteilung der Kohlendioxidkosten zwischen Vermieter*in und Mieter*in. Zuvor zahlten Mietende den vollständigen CO2-Preis ihrer Heizkosten, obwohl sie keinen Einfluss auf den energetischen Zustand oder die Heiztechnik hatten. In vermieteten Gebäuden sind nunmehr die Kohlendioxidkosten, die für Heizöl oder Erdgas anfallen, zwischen Vermieter*in und Mieter*in aufzuteilen. (…) Dadurch entstand ein Anreizsystem sowohl für das Energiesparen als auch für die energetische Sanierung von Gebäuden." Soweit die Theorie, nun folgt die Praxis.

Sofern Sie, liebe Leserinnen und Leser, noch nie vom Kohlendioxidkostenaufteilungsgesetz gehört haben, das Gesetz existiert tatsächlich. Und da ich in meiner Wohnung Gaseinzelöfen stehen habe, muss ich gemäß § 5 Abs. 3 CO2KostAufG den Kohlendioxidausstoß meiner Wohnung selbst ermitteln und meinem Vermieter ggf. den anteiligen CO2-Preis innerhalb von zwölf Monaten in Rechnung stellen. Automatisch läuft das nämlich nur, wenn die Heizkostenabrechnung vom Vermieter kommt. Nach Angaben des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) gab es hierzulande 2023 in den Wohnungen immerhin noch 2,2 Mio. Einzelheizungen. [1] Ich möchte nicht wissen, wie viele Mieter noch nie etwas vom Kohlendioxidkostenaufteilungsgesetz gehört haben und die demzufolge auch gar nicht daran denken, den CO2-Preis zwischen ihnen und ihrem Vermieter aufzuteilen. Doch diese Mieter müssen sich laut Gesetz alle selbst darum kümmern, eigens dazu aufgefordert wird keiner. Das ist erfahrungsgemäß eine hohe Hürde. Nicht wenige verzichten ja auch aus Unterkenntnis oder wegen der komplizierten Beantragung auf staatliche Leistungen.

Die Aufteilung des CO2-Preises für meine Wohnung habe ich mithilfe des Onlinetools des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) berechnet. Ergebnis: Anteil des Mieters 100 Prozent. Vielen Dank, liebe Ampelregierung! (Achtung: Ironie) Bei Wohnungen legt das Kohlendioxidkostenaufteilungsgesetz in einem Stufenmodell fest, wie der CO2-Preis zwischen Vermieter und Mieter konkret aufgeteilt wird, der Prozentsatz richtet sich nach dem Kohlendioxidausstoß der vermieteten Wohnung pro Quadratmeter Wohnfläche und Jahr. Eigentlich ganz einfach, wenn man weiß, wo die Angaben auf der Brennstoffrechnung zu finden sind.

Mein CO2-Ausstoß ist gering, aber nicht, weil das in den sechziger Jahren gebaute Mehrfamilienhaus so toll gedämmt wäre, sondern weil ich die Heizung seit dem Beginn des Ukraine-Krieges spürbar gedrosselt habe, um Heizkosten zu sparen. [2] Der Gaspreis hat sich bekanntlich nach Kriegsbeginn drastisch erhöht. Der Kostenanteil meines Vermieters wäre nur höher, wenn ich auch stärker heizen würde, was dann allerdings wiederum meine Heizkosten erhöht. In puncto Klimaschutz wäre das obendrein kontraproduktiv. Das Stufenmodell nützt mir also gar nichts. Das, was ich am CO2-Preis sparen würde, müsste ich bei den Kosten für den Gasverbrauch wieder drauflegen, und zwar ein Mehrfaches davon. Bestenfalls ein Nullsummenspiel, höchstwahrscheinlich ein Minusgeschäft.

Anders formuliert: Ich strenge mich an, mein Vermieter hingegen macht überhaupt nichts, und wer muss zahlen? Ich! Ist das gerecht? Ist das vernünftig? Nein, das ist ein gesetzlich festgeschriebenes Ungleichgewicht, bei dem umweltbewusste oder weniger begüterte Mieter die Dummen sind (die, die sparen wollen, sowie die, die sparen müssen). Zumindest bei mir hat der Vermieter jedenfalls keinen Anreiz, Energie einzusparen und die energetische Sanierung in Angriff zu nehmen. Und wenn ich meinem Vermieter den CO2-Preis in Rechnung stellen würde, käme vielleicht die nächste Mieterhöhung. Davor sind die Mieter in Deutschland leider nur unzureichend geschützt, die horrenden Mietpreissteigerungen hat die Ampelregierung ebenso wenig angepackt wie vieles andere.

Wer denkt sich bloß solche Gesetze aus? Meine Kritik richtet sich nicht gegen den CO2-Preis, sondern gegen die unsozialen Detailregelungen. "Wir setzen auf einen steigenden CO2-Preis als wichtiges Instrument, verbunden mit einem starken sozialen Ausgleich und werden dabei insbesondere Menschen mit geringeren Einkommen unterstützen", heißt es im Koalitionsvertrag. Den "starken sozialen Ausgleich" vermisse ich aber genauso wie das versprochene Klimageld (finanzielle Rückvergütung an die Bürger). [3]

Das Kohlendioxidkostenaufteilungsgesetz (ach, ich liebe dieses Wort mindestens so wie Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz) ist ein gutes Beispiel für Gesetze, für die sich die Bundesregierung zwar selbst anerkennend auf die Schulter klopft, die jedoch vielen Bürgern faktisch nichts bringen. Dabei böte das Kohlendioxidkostenaufteilungsgesetz durchaus eine Lösung. Warum hat man die Regelung für Nichtwohngebäude nicht auch bei Mietwohnungen genommen? Dort wird pauschal hälftig zwischen Mieter und Vermieter aufgeteilt. Halbe-halbe. Im Gegensatz zu Wohngebäuden/Wohnungen werden bei Nichtwohngebäuden (Anstaltsgebäude, Büro- und Verwaltungsgebäude, Betriebsgebäude, Hotels etc.) Einsparbemühungen nicht mit einer ungünstigeren Aufteilung des CO2-Preises bestraft. Aber warum einfach, wenn es auch kompliziert geht? Kurios: Dieses einfache Verfahren wird bei Nichtwohngebäuden 2025 abgeschafft und durch ein Stufenmodell abgelöst. Geht's noch? Wie war das mit dem Bürokratieabbau?

Und was die Milliarden für den Wohnungsbau angeht: Fakt ist, dass die von der Ampelregierung versprochenen 400.000 neue Wohnungen pro Jahr krass verfehlt werden. 294.400 waren es 2023 - 0,3 Prozent weniger als 2022. [4] Davon, dass diese für Durchschnittsverdiener kaum noch zu bezahlen sind, ganz zu schweigen. Aber die Zahl der Sozialwohnungen ist ebenfalls weiter gesunken. 100.000 neue Sozialwohnungen waren das Ziel der Regierungskoalition, gebaut wurden lediglich 49.430, also nicht einmal die Hälfte davon. [5] Für Geringverdiener wird die Situation immer schwieriger. Alternative Lösungsmöglichkeiten werden freilich weiterhin ignoriert. [6]

Bei der Ampelregierung klaffen Anspruch und Wirklichkeit himmelweit auseinander. Und aus der Sicht eines Grünen-Wählers ist die Regierungsbeteiligung dieser Partei eine Riesenenttäuschung. Übrigens ähnlich wie nach dem Regierungswechsel im Jahr 1998. Mich hat daher der Absturz bei der Europawahl nicht gewundert. Viel versprechen, aber wenig halten, insbesondere bei den Kernthemen - das machen Wählerinnen und Wähler nur begrenzte Zeit mit. Und um Missverständnissen gleich vorzubeugen: Nein, ich habe natürlich nicht die AfD gewählt, ich würde niemals die Feinde der Demokratie wählen. Nicht einmal aus Protest. Mit Volt habe ich eine wählbare Alternative gefunden. Und damit war ich anscheinend nicht der Einzige, wie deren Ergebnisse bei der Europawahl und bei den Kommunalwahlen zeigen.

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[1] BDEW, Wie heizt Deutschland?, Folie 6, PDF-Datei mit 1,4 MB
[3] SPD, Mehr Fortschritt wagen, Koalitionsvertrag 2021-2025, Seite 49, PDF-Datei mit 2,2 MB
[4] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 203 vom 23. Mai 2024
[5] tagesschau.de vom 22.05.2024
[6] siehe So kann und darf es nicht weitergehen vom 27.05.2023