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01. Juli 2024, von Michael Schöfer
Es ist gar nicht so schwer zu begreifen

Wenn man in den USA ein gut verdienender Angehöriger des Ostküsten-Establishments ist, wundert man sich vielleicht, warum die Menschen so zwielichtige Typen wie Donald Trump wählen (oder bei uns in Deutschland die AfD). Dabei ist das Rätsel relativ leicht zu lösen, denn der Grund ist die durchaus berechtigte Wut aufs Establishment, das sich vor allem um die Interessen der Vermögenden kümmert, sich jedoch einen Dreck um die Interessen der Durchschnittsverdiener und Armen schert. Man hat den keineswegs abwegigen Eindruck: Egal wen man wählt, ob Republikaner oder Demokraten - die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer. Übertragen auf Deutschland: Ob Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot oder Rot-Grün-Gelb - sie kommen und gehen, was bleibt sind Wohnungsnot und horrende Mietpreissteigerungen. Lösungen? Fehlanzeige!

Hinzu kommt die demonstrative Verachtung des Establishments, leider muss man das so drastisch formulieren: "Der Oberste Gerichtshof der USA hat am Freitag Gesetze für verfassungsgemäß erklärt, die Obdachlosen das Campieren im Freien verbieten. Der Supreme Court gab damit einer Stadtverwaltung im US-Bundesstaat Oregon Recht, die Maßnahmen gegen Obdachlosencamps in öffentlichen Parks eingeführt hatte. (…) Wer gegen die Vorschriften verstößt, muss mit Geldstrafen in Höhe von mehreren hundert Dollar und bei Wiederholung auch mit Gefängnisstrafen rechnen." [1] Das Problem ist jedoch: Wo sollen die Obdachlosen hin? In den USA gab es im vergangenen Jahr 653.100 Obdachlose, und in den Metropolen sind die Mietpreise selbst für Gutverdiener kaum zu stemmen. Sozialdarwinismus as it's best.

Der Gini-Index ist ein statistisches Maß für die Ungleichverteilung innerhalb einer Gruppe, je höher der Wert desto ungleicher die Verteilung.

Einkommensungleichheit in den USA [2]
Jahr
Gini-Index
1963 0,376
1964 0,381
1965 0,375
1966 0,378
1967 0,369
1968 0,363
1969 0,360
1970 0,366
1971 0,369
1972 0,367
1973 0,361
1974 0,355
1975 0,357
1976 0,356
1977 0,355
1978 0,348
1979 0,348
1980 0,347
1981 0,355
1982 0,367
1983 0,373
1984 0,373
1985 0,376
1986 0,376
1987 0,372
1988 0,377
1989 0,382
1990 0,383
1991 0,380
1992 0,384
1993 0,404
1994 0,400
1995 0,399
1996 0,403
1997 0,405
1998 0,400
1999 0,400
2000 0,401
2001 0,406
2002 0,404
2003 0,408
2004 0,403
2005 0,410
2006 0,414
2007 0,408
2008 0,408
2009 0,406
2010 0,400
2011 0,409
2012 0,409
2013 0,407
2014 0,415
2015 0,412
2016 0,411
2017 0,412
2018 0,414
2019 0,415
2020 0,397
2021 0,398
blau = demokratischer Präsident, rot = republikanischer Präsident


gepunktete Linie = Niveau von 2021

Die Tabelle und die Grafik zeigen: Insbesondere in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts war die Einkommensungleichheit in den USA verhältnismäßig gering. Seit den achtziger Jahren steigt sie jedoch kontinuierlich an und erreicht im 21. Jahrhundert Spitzenwerte. Und daran haben weder demokratische noch republikanische Präsidenten etwas geändert. Ob im Repräsentantenhaus und Senat Blau oder Rot dominierte - es ist fast egal: die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer. Lösungen? Fehlanzeige!

Solange sich das nicht grundlegend ändert, werden sich die Wählerinnen und Wähler peu à peu von den etablierten Parteien abwenden und verstärkt auf skurrile Außenseiter setzen. Im Umkehrschluss bedeutet das: Bitte nicht bloß kurz vor der Wahl in salbungsvollen Worten Verständnis für die "hart arbeitenden Menschen" zeigen, was ohnehin total unglaubwürdig ist, sondern nach dem Wahltag auch tatsächlich etwas für sie tun. Wer allerdings die Wählerinnen und Wähler nur veräppelt, braucht sich über die weitverbreitete Wut nicht zu wundern. Eigentlich ist es gar nicht so schwer zu begreifen.

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[1] Standard vom 28.06.2024
[2] Our World in Data, Angaben laut Weltbank, CC BY 4.0 (neuere Daten nicht verfügbar)