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03. Juli 2024, von Michael Schöfer
Melis Sekmen missbraucht meine Wählerstimme


Die Mannheimer Bundestagsabgeordnete Melis Sekmen enttäuscht ihre Wählerinnen und Wähler, und ich bin einer davon. 2021 habe ich ihr meine Erststimme gegeben und mit der Zweitstimme ebenfalls die Grünen gewählt. Das Direktmandat in Mannheim hat zwar Isabel Cademartori von der SPD gewonnen, doch Sekmen zog über die Landesliste in den Bundestag ein. Natürlich hat eine Abgeordnete das Recht, innerhalb der Legislaturperiode die Partei und damit auch die Fraktion zu wechseln, als Wähler fühle ich mich allerdings um meine Stimme betrogen. Die repräsentative Demokratie ist nämlich durch ihren Wechsel zur CDU nicht mehr ganz so repräsentativ, wie sie es dem Bundeswahlgesetz zufolge sein sollte.

Meine Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl 2021 richtete sich an der Programmatik der Parteien aus, und das Wahlprogramm der Grünen war aus meiner Sicht das überzeugendste. Dass Sekmen jetzt ausgerechnet zur CDU wechselt, widerspricht diametral meinem damaligen Wählerwillen. "Politik muss den Mut haben unbequeme Realitäten zu benennen, auch, wenn es nicht in die eigene politische Erzählung passt. Diese Stimmen müssen stärker aus der Mitte und nicht aus den extremen Rändern der Politik kommen. Dafür brauchen wir eine Debattenkultur, die Menschen für ihre Meinung oder ihre Sorgen nicht in Schubladen steckt. Dafür werde ich mich weiterhin einsetzen. Im neuen Grundsatzprogramm der CDU habe ich diese und viele andere Ansätze wieder gefunden, mit denen ich mich identifizieren kann. Deshalb habe ich mich der Unionsfraktion angeschlossen", begründet Sekmen ihren Übertritt. [1] Und: "Ich bin für vier Jahre gewählt." [2] Letzteres stimmt, aber aufgrund von ganz anderen Wahlaussagen als denen, die im Grundsatzprogramm der CDU stehen.

Dort steht beispielsweise: "Deutschland kann zurzeit nicht auf die Option Kernkraft verzichten." [3] Faktisch bedeutet das den Neubau von Kernkraftwerken, denn die alten sind ja bekanntlich außer Betrieb und können unter vertretbarem Aufwand nicht mehr reaktiviert werden. In der Union wird deshalb schon seit geraumer Zeit über den Bau von Atommeilern "der vierten Generation" nachgedacht [4], was die Risiken dieser Technik, die horrenden Baukosten, die lange Bauzeit sowie die ungelöste Entsorgung des Atommülls angeht stellen sich jedoch nach wie vor die gleichen Fragen wie seit eh und je. Dass Melis Sekmen nun mit meiner Wählerstimme dieses Ansinnen unterstützt, finde ich ungeheuerlich. Aber vielleicht ist sie ja tatsächlich von der Wirtschaftspolitik der Grünen enttäuscht, wie sie beteuert. Warum sie dann ausgerechnet zur CDU wechselt, die beispielsweise für die marode Infrastruktur Deutschlands die Hauptverantwortung trägt, will sich mir einfach nicht erschließen.

Und was die von ihr geforderte Debattenkultur angeht ist die CDU im Allgemeinen und Friedrich Merz im Besonderen ein völlig ungeeignetes Vorbild. Für den CDU-Vorsitzenden sind die Grünen erklärtermaßen der "Hauptgegner", und er ist sich dabei nicht zu schade in wahrhaft populistischer Manier über "die 20-jährigen Studienabbrecher in der grünen Bundestagsfraktion" herzuziehen, "die uns von morgens bis abends die Welt erklären". [5]

Apropos: Die 30-jährige Sekmen befindet sich nach eigenen Angaben "in den Endzügen" ihres Studiums der Volkswirtschaftslehre (B. Sc. Economics), das sie aber bereits vor 12 Jahren begonnen hat. [6] "Die Regelstudienzeit für den Bachelorstudiengang beträgt einschließlich der Prüfungszeiten sechs Semester", schreibt die Studien- und Prüfungsordnung der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg für den Bachelorstudiengang Volkswirtschaftslehre vor. [7] Das sind drei Jahre. Vermutlich macht sie aufgrund ihrer politischen Verpflichtungen ein Teilzeitstudium, was die Regelstudienzeit auf sechs Jahre verlängert. Wer ätzte 2019 in Magdeburg auf dem kleinen Parteitag der CDU Sachsen-Anhalt gegen den "Dauerstudenten" Kevin Kühnert, "der noch nie in seinem Leben Geld verdient hat" (was obendrein nachweislich falsch war)? Antwort: Friedrich Merz. [8] Meine Prognose: Die Langzeitstudentin Melis Sekmen wird sich in der CDU richtig wohl fühlen. (Achtung: Könnte einen Schuss Ironie beinhalten.)

Natürlich kann es politische Beweggründe geben, die Partei zu wechseln. Wir alle ändern und entwickeln uns mit der Zeit weiter. Das ist völlig normal. Und es kann durchaus sein, dass dabei die persönliche Entwicklung eine andere Richtung einschlägt als die Partei. In diesem Fall muss man sich eben trennen. Doch das Mandat mitzunehmen, das ihr von den Wählerinnen und Wählern unter ganz anderen Voraussetzungen erteilt wurde, ist in meinen Augen unanständig (obgleich juristisch legal).

Über die wahren Motive kann man lediglich spekulieren. Vielleicht waren es die schlechten Umfrage- und Wahlergebnisse der Grünen, die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Legislaturperiode im Deutschen Bundestag ist derzeit bei der CDU zweifelsohne wesentlich höher. Bei der Europawahl und der Gemeinderatswahl am 9. Juni 2024 kamen die Grünen in Mannheim hinter der CDU jeweils bloß auf Platz 2. CDU-Bundestagskandidat im Wahlkreis Mannheim war 2021 der 1954 geborene Roland Hörner, der 2025 mit dann 71 Jahren sicherlich keine Nachwuchshoffnung mehr ist. Die 1993 geborene Melis Sekmen kommt da der CDU eventuell gerade recht, junge Frauen mit Migrationshintergrund haben die Konservativen ohnehin viel zu wenig. Möglicherweise eine Win-win-Situation: Ende 2023 hatten 48,5 Prozent der Mannheimer einen Migrationshintergrund, 18 Prozent davon mit einem Bezug zur Türkei. [9] Mannheim ist eine diverse Stadt, hier leben Menschen aus 170 Nationen. Ein Wählerpotenzial, das die CDU zur Rückeroberung des Direktmandats gut gebrauchen könnte (2017 gewann hier für die CDU ein gewisser Nikolas Löbel).

Wie dem auch sei, meiner Meinung nach missbraucht Melis Sekmen meine Wählerstimme. Und diesen Eindruck dürften viele Wählerinnen und Wähler der Grünen mit mir teilen.

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[1] Website von Melis Sekmen, Austritt Fraktion, PDF-Datei mit 60 KB
[2] Rhein-Neckar-Zeitung vom 03.07.2024
[3] CDU, Grundsatzprogramm der CDU Deutschlands, Seite 64, PDF-Datei mit 1,3 MB
[4] BZ vom 09.12.2023
[5] Focus-Online vom 19.11.2023
[6] Website von Melis Sekmen, Wer bin ich
[7] Universität Heidelberg, PDF-Datei mit 627 KB
[8] Spiegel-Online vom 07.12.2019
[9] mannheim.de, Migrationshintergrund