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04. Juli 2024, von Michael Schöfer
Der Supreme Court hat den Rubikon überschritten


Man weiß ja immer viel zu wenig, denn die Lebens- und demzufolge auch die Lesezeit ist bedauerlicherweise begrenzt. Die ungelesenen Bücher werden immer die Oberhand über die gelesenen behalten. Zudem trägt Hollywood einen nicht unerheblichen Teil zur Verfälschung der Geschichte bei. Deshalb ist uns die römische Kaiserzeit mit ihren skurrilen Herrschern scheinbar vertrauter als die vorangegangene römische Republik. Wer erinnert sich nicht an den von Richard Burton gespielten Marcus Antonius (in "Cleopatra" aus dem Jahr 1963) oder an den von Peter Ustinov meisterhaft in Szene gesetzten Nero (in "Quo vadis?" aus dem Jahr 1951)? Doch sind die historischen Begebenheiten tatsächlich so abgelaufen? War Caligula wirklich wahnsinnig oder ist das bloß eine Legende? War Commodus tatsächlich ein Monster oder vielleicht sogar ein fähiger Staatsmann? Die Wahrheit ist oft hinter einem Schleier aus dubiosen Überlieferungen verborgen.

Man darf sich die römische Republik (509 - 27 v. Chr.) nicht als Demokratie in unserem heutigen Sinne vorstellen, doch im Gegensatz zur späteren Kaiserzeit (27 v. Chr. - 476 n. Chr.) existierte zumindest in Ansätzen eine Kontrolle der Macht, die den Missbrauch derselben verhindern sollte. So wurden beispielsweise Ämter nur auf Zeit vergeben, während danach die Kaiser auf Lebenszeit herrschten. Trotzdem darf man sich die römische Republik nicht als friedlich und frei von Krisen vorstellen, vielmehr war sie zuletzt von Bürgerkriegen und sozialen Verwerfungen geprägt, was schließlich zu ihrem Untergang führte. Die Initialzündung zu deren Ende war aber zweifellos das unstillbare Machtstreben eines Mannes: Gaius Julius Caesar riss die Macht an sich und wollte sie nicht mehr hergeben. Der Usurpator wurde am 15. März 44 v. Chr. (in den Iden des März) ermordet, was die Republik allerdings auch nicht mehr rettete. Im darauffolgenden Machtkampf setzte sich Octavian alias Augustus als erster Alleinherrscher Roms durch.

Stehen wir nun erneut vor einer Epochenwende? Ist die Zeit der liberalen Demokratie abgelaufen? Dieses Schicksal könnte uns genauso plötzlich ereilen wie der Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1989. In den USA hat der Supreme Court mit einem in dieser Form unerwarteten Grundsatzurteil zur Immunität von US-Präsidenten der Diktatur eines Einzelnen Tür und Tor geöffnet. Der Präsident genießt bei allen offiziellen Amtshandlungen absolute Immunität, urteilten die Richter in einer Mehrheitsentscheidung. Dies gilt zwar nicht für inoffizielle und private Handlungen, er stehe also angeblich keineswegs über dem Gesetz, doch das Gericht ließ die genaue Abgrenzung offen und schränkte zugleich die Befugnisse der Anklagebehörden ein. Faktisch stehen US-Präsidenten dadurch sehr wohl über dem Gesetz. Die Gewaltenteilung, das System der gegenseitigen Kontrolle von Regierung, Parlament und Justiz (Checks and Balances), ist nachhaltig beschädigt. Bei einem ebenso zweifelhaften wie gefährlichen Charakter wie dem von Donald Trump muss man das Schlimmste befürchten.

Richterin Sonia Sotomayor beschrieb die erschreckenden Konsequenzen: "Ihre konservativen Kollegen hätten (...) ein Urteil gefällt, das Trump 'eine geladene Waffe' bereitlege, schreibt sie in einem scharfen Kommentar für die liberale Minderheit am Gericht. Indem der Supreme Court dem Präsidenten weitreichende Straffreiheit zugestehe, sei dieser fortan 'ein König, der über dem Gesetz steht'. (…) Würde Donald Trump geltend machen, als Präsident zu handeln, müsste er nicht einmal mehr befürchten, für Mordaufträge zur Verantwortung gezogen zu werden, warnt Sotomayor. 'Er befiehlt dem Seal Team 6 der Navy, einen politischen Rivalen umzubringen? Immun. Er organisiert einen Militärcoup, um an der Macht zu bleiben? Immun. Er nimmt Bestechungsgeld an im Tausch gegen eine Begnadigung? Immun. Immun, immun, immun.'" [1] Und für alles, wofür Trump theoretisch belangt werden könnte, darf er sich möglicherweise selbst begnadigen. Unglaublich. Diese Machtfülle ist vollkommen inakzeptabel, da ist der Machtmissbrauch gewissermaßen vorprogrammiert. Die deformierte Demokratie: Unrecht definiert der Supreme Court kurzerhand als rechtmäßig.

Die Vereinigten Staaten schlafwandeln nicht in den Abgrund, sie springen sehenden Auges hinein. Seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 sind die ehemaligen britischen Kolonien demokratisch, jetzt könnte sich diese Ära abrupt ihrem Ende zuneigen - mit allen daraus resultierenden Folgen für das globale Machtgefüge. Wladimir Putin kann sein Glück bestimmt kaum fassen. Auch wenn ich aufgrund meines eingangs erwähnten, naturgemäß stets unzulänglichen Wissens falsch liegen mag und historische Vergleiche ohnehin immer hinken, hat mich das Urteil unwillkürlich an das Ende der römischen Republik und an den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, erinnert: die rechtswidrigen Machtgelüste von Gaius Julius Caesar. Seit dieser Zeit gilt das Überschreiten des Rubikon und der Spruch "die Würfel sind gefallen" als Metapher für eine unwiderrufliche Entscheidung. Am 1. Juli 2024 hat der Supreme Court den Rubikon überschritten. Doch es gibt noch ein letztes Fünkchen Hoffnung: Sofern die Wählerinnen und Wähler bis zum 5. November zur Besinnung kommen, sind die Würfel keineswegs gefallen. Andernfalls kann uns keiner mehr vor der Willkür Trumps retten.

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[1] Süddeutsche vom 03.07.2024, Printausgabe Seite 2