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05. Juli 2024, von Michael Schöfer
Keir Starmer und die Gerechtigkeitsfrage


Labour hat mit Keir Starmer bei der Unterhauswahl einen Erdrutschsieg errungen, nach dem aktuellen Auszählungsstand (05.07.2024, 12:30 Uhr) kommt Labour auf 412 von insgesamt 650 Sitzen. (In Großbritannien gilt ein reines Mehrheitswahlrecht.) Eine komfortable Mehrheit, 86 Sitze mehr als für eine Regierungsübernahme notwendig gewesen wären. Keir Starmers Sieg liegt damit fast auf dem gleichen Niveau wie dem von Tony Blair im Jahr 1997 (418 Sitze), der dreimal hintereinander Unterhauswahlen gewann (1997, 2001, 2005). Doch für den als gemäßigt geltenden Labour-Vorsitzenden fangen die Probleme jetzt erst an. Kann er den hochgesteckten Erwartungen gerecht werden? Wird es für die Briten unter Labour spürbare Verbesserungen geben? Das bleibt abzuwarten, wie ein Blick zurück zeigt.

Der historische Sieg von Tony Blair im Jahr 1997 war wirklich beeindruckend, doch bei der Unterhauswahl von 2005 erlitt seine Partei spürbare Verluste. Resultat seiner Politik. Die Sozialdemokratie war damals in ganz Europa im Umbruch, gab traditionell sozialdemokratische Positionen preis, weil sie ebenfalls vom neoliberalen Virus infiziert war. Tony Blair und Gerhard Schröder waren beide nicht nur Sozialdemokraten, sondern auch Brüder im Geiste. 1999 veröffentlichten sie ein gemeinsames Papier, dort hieß es u.a.: "In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt."

Ein verräterischer Satz, schließlich kommt es bei der Gerechtigkeit hauptsächlich auf die erzielten Ergebnisse an, denn die von Blair und Schröder propagierte Chancengleichheit allein ist unzureichend. Was allerdings nicht heißt, dass sie nicht erstrebenswert wäre, aber sie ist halt bloß Mittel zum Zweck. Ein Mittel von vielen. "Die Politik der Neuen Mitte und des Dritten Weges", wie Blair und Schröder ihre Positionen bezeichneten, führte in Deutschland zur Agenda 2010, ein Synonym für Sozialabbau (Hartz IV, Absenkung des Rentenniveaus, Ausweitung des Niedriglohnsektors etc.). Parallel dazu wurden die Steuern für Besserverdienende gesenkt. Die negativen Folgen für die SPD und Gerhard Schröder sind bekannt: ein dramatischer Absturz in der Wählergunst.



Der Gini-Index ist ein statistisches Maß für die Ungleichverteilung innerhalb einer Gruppe, je höher der Wert desto ungleicher die Verteilung. Wenn wir uns die Entwicklung des Gini-Index während der Regierungszeit von Labour zwischen 1997 und 2010 anschauen (rot markierter Bereich in der nachfolgenden Grafik), fällt auf, dass die Einkommensungleichheit unter Tony Blair und Gordon Brown (ab 2007 Premierminister) keineswegs dramatisch gesunken ist. Im Gegenteil, in der ersten Amtszeit von Blair ist sie im Vergleich der letzten drei Jahrzehnte sogar auf ein neues Rekordhoch gestiegen. Maggie Thatcher, die "Eiserne Lady", wäre beinahe vor Neid erblasst. Im Schnitt unterscheidet sich die Einkommensungleichheit kaum von der vorherigen (John Major) und der nachfolgenden (Cameron, May, Johnson) Regierungszeit der Tories. Mit anderen Worten: Die Politik der Neuen Mitte und des Dritten Weges hat den Briten in puncto Gerechtigkeit nicht allzu viel gebracht.


Our World in Data, Angaben laut Weltbank, CC BY 4.0 (neuere Daten nicht verfügbar)

Aber gerade daran wird sich Keir Starmer messen lassen müssen. Wenn ihm das ebenfalls misslingt, wird beim Wahlvolk unweigerlich Ernüchterung eintreten. Die entscheidende Frage ist, ob der Turbokapitalismus reformfähig genug ist, um die Demokratie nicht durch wachsende Ungleichheit zu zerstören. Übrigens: Der frühere Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn, der bei der Unterhauswahl nicht mehr für Labour antreten durfte, hat seinen Wahlkreis (Islington North) mit überzeugenden 49,2 Prozent als Unabhängiger gewonnen und wird weiterhin im Unterhaus sitzen. Traditionell sozialdemokratische Positionen sind also nicht völlig verschwunden, unter Umständen werden sie noch gebraucht.