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| Impressum 08. Juli 2024, von Michael Schöfer Bitte keine Spekulationen übers Wahlrecht Bei den Wahlen in Großbritannien und Frankreich wurde die Machtübernahme durch Rechtsextreme verhindert. Aus diesem Grund könnten manche auf die Idee kommen, auch hierzulande zu einem Mehrheitswahlrecht zu wechseln, solche Forderungen tauchen ja immer mal wieder auf (vorwiegend auf Seiten des konservativen Spektrums). [1] An Großbritannien und Frankreich sieht man allerdings, wie stark das Mehrheitswahlrecht (the winner takes all) die Ergebnisse verzerrt. Dass die Reform UK von Nigel Farage mit 14,3 Prozent der Stimmen bloß 5 Unterhaussitze bekommt, die Liberaldemokraten mit 12,2 Prozent jedoch satte 72, ist zweifellos ein krasses Missverhältnis. Gerecht? Wohl kaum. Wäre es nach einem reinen Verhältniswahlrecht gegangen, wären die Wahlen in Großbritannien (Mehrheitswahl in einem Durchgang) und in Frankreich (Mehrheitswahl in zwei Durchgängen) ganz anders ausgegangen. Andererseits weiß man nicht, wie sich die Wählerinnen und Wähler bei Gültigkeit eines anderen Wahlrechts entschieden hätten. In den nachfolgenden Tabellen wurden die Parteien, die weniger als fünf Prozent erhielten, der Einfachheit halber weggelassen. Regionale Besonderheiten, etwa das Abschneiden von Sinn Fein in Nordirland, der Scottish National Party oder von unabhängigen Kandidaten, sind hier also irrelevant. Die gelb unterlegten Felder sind die tatsächlichen Wahlergebnisse und die tatsächliche Sitzverteilung, die rot unterlegten die hypothetische Sitzverteilung, wenn es nach einem reinen Verhältniswahlrecht (inkl. 5 %-Sperrklausel) gegangen wäre.
Hätte das Verhältniswahlrecht gegolten, könnte Labour in Großbritannien nur mit einem Koalitionspartner regieren. In Frankreich wäre der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen der klare Wahlsieger gewesen und bei der Sitzverteilung auf dem ersten Platz gelandet, was freilich nichts an den schwierigen Mehrheitsverhältnissen in der neuen Nationalversammlung geändert hätte. Drehen wir das Ganze einmal um und unterstellen, bei der Bundestagswahl 2021 hätte ein reines Mehrheitswahlrecht gegolten. Bei identischer Wahlkreiseinteilung wäre es zu folgender Sitzverteilung gekommen (Sieger nach dem Erststimmenergebnis in den 299 Wahlkreisen) [4]:
Die FDP wäre nicht im Deutschen Bundestag vertreten, die Ampelregierung folglich gar nicht möglich. Da aber keines der klassischen Lager auf die notwendige Kanzlermehrheit kommt (150 Mandate), blieben bloß eine große Koalition aus Union und SPD (264) oder eine kleine aus Schwarz-Grün (159) übrig. Rechnerisch ist zwar auch eine Koalition aus Union und AfD machbar, aber die Brandmauer muss ja halten. Das verspricht in beiden Fällen wenig Spaß beim Regieren, der Frust bei den Bürgern wäre daher möglicherweise um keinen Deut geringer. Legt man das Ergebnis der Europawahl 2024 zugrunde, säßen im Deutschen Bundestag fast ausschließlich Abgeordnete der Union und der AfD, Abgeordnete der SPD und der Grünen gäbe es dagegen kaum. Aber das ist natürlich Spekulation, weil jede Wahl ihren eigenen Gesetzen folgt. Mit dem Wahlrecht kann man Mehrheitsverhältnisse drastisch ändern, ob damit aber am Ende für die Bürger auch eine bessere Politik herauskommt, steht auf einem anderen Blatt. Andere Mehrheiten sagen noch nichts über die Kompetenz der Parteien aus, die Probleme der Bevölkerung zu lösen. Denn selbst bei der Alleinregierung einer Partei ist gutes Regieren keineswegs garantiert, wie das Chaos bei den britischen Tories schlagend bewiesen hat. Für mich steht deshalb die Problemlösungskompetenz im Vordergrund. Ob die allerdings in den Parteien überhaupt in ausreichendem Maße vorhanden ist, kann man mit Fug und Recht bezweifeln. ----------
[1]
Die Welt vom 08.03.2018
[2]
BBC, UK General election 2024
Results, Berechnung nach d'Hondt, Online-Rechner von Arndt Brünner
[3]
Le Monde, Les résultats des élections législatives
2024, Berechnung nach d'Hondt, Online-Rechner von Arndt
Brünner
[4] Wikipedia, Erststimmenergebnis nach
Wahlkreisen
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