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11. Juli 2024, von Michael Schöfer
Brandgefährliche Entwicklung


Die Medien berichten, dass die USA ab 2026 wieder "Langstreckenwaffen" [1] bzw. "Langstreckenraketen" [2] in Deutschland stationieren werden. Das ist ein brandgefährliches Spiel mit dem atomaren Feuer, von dem man nur dringend abraten kann. Die Stationierung berührt nämlich grundlegende strategische Fähigkeiten, die nichts mit dem Ukraine-Krieg oder mit dem aggressiven Regime von Wladimir Putin zu tun haben. Unser Motto sollte deshalb sein: Was immer du tust, handle klug und bedenke das Ende.

Doch zunächst muss man die Begriffe klären: Langstreckenraketen sind von der Definition her Intercontinental ballistic missiles (ICBM) mit einer Reichweite von über 5.500 km. Der Veröffentlichung der Bundesregierung zufolge ist allerdings die Stationierung der Systeme SM-6, Tomahawk und von derzeit noch in der Entwicklung befindlichen Hyperschallwaffen die Rede. [3] Die Standard Missile 6 (SM-6) hat eine Reichweite von 240 bis ca. 460 km, ist also den Kurzstreckenraketen zuzuordnen. Der Marschflugkörper Tomahawk hat je nach Ausführung eine Reichweite von bis zu 2.500 km und ist somit eine klassische Mittelstreckenwaffe. Er kann auch atomare Gefechtsköpfe tragen. Von den noch zu entwickelnden Hyperschallwaffen ist naturgemäß wenig bekannt.

Die Erklärung spricht zwar ausdrücklich von "konventionellen" Einheiten, aber wie bei den russischen Pendants bleibt immer eine gewisse Unsicherheit, ob sie konventionelle oder nukleare Gefechtsköpfe tragen. Von außen sieht man ihnen das nicht an. Wichtig bei der Abschreckung ist nicht nur, was man tatsächlich beabsichtigt, wichtig ist mindestens genauso, was der Gegner über unsere Absichten annimmt (Perzeption). Dass der INF-Vertrag von 1987 alle landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 km verbot, hatte durchaus seinen Sinn. Der Worst Case (der schlechteste anzunehmende Fall) wurde durch die Eliminierung einer ganzen Waffenkategorie gemildert. Wegen der strategischen Disparität (die USA konnten damit von Europa aus die UdSSR erreichen, umgekehrt die Sowjetunion jedoch nicht das amerikanische Festland) galten die US-Mittelstreckenraketen als potenzielle Erstschlagswaffen, die einen starken Eskalationsdrang erzeugen. Aufgrund der kurzen Flugzeit war die Vorwarnzeit aufseiten der Sowjetunion extrem gering, was in Spannungszeiten die Nervosität erhöhte und einen Nuklearkrieg aus Versehen in den Bereich des Möglichen rückte.

1983 entging die Welt nur knapp einem Atomkrieg, als das sowjetische Frühwarnsystem fälschlicherweise einen Angriff durch amerikanische Interkontinentalraketen meldete. Es war nur der Besonnenheit von Stanislaw Petrow, dem diensthabenden Offizier der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte, zu verdanken, dass der Untergang der Menschheit gerade noch einmal abgewendet wurde. Aber es war verdammt knapp: "Ich hatte fünf, höchstens zehn Minuten, um zu entscheiden, ob der Alarm echt ist", sagte Petrow später. [4] Trotzdem Zeit genug, um den Fehlalarm zu erkennen. Zeit, die jedoch bei in Europa stationierten Mittelstreckenwaffen vermutlich nicht mehr zur Verfügung steht.

Der INF-Vertrag wurde 2019 durch Donald Trump mit Verweis auf russische Vertragsverstöße gekündigt. Er verbot die Produktion und die Tests von Mittelstreckenraketen, doch bereits zwei Wochen nach dem Auslaufen des Vertrags haben die USA einen zuvor verbotenen Marschflugkörper getestet. [5] Der damalige US-Verteidigungsminister Mark T. Esper gab zu, dass das amerikanische Verteidigungsministerium schon ab 2017 angeblich vertragskonforme Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten aufgenommen hatte. [6] Da die Entwicklungszeit neuer Waffen normalerweise mehrere Jahre dauert, kann man wohl auch den USA den Bruch des INF-Vertrags unterstellen. Das gegenseitige Misstrauen war daher nicht unberechtigt.

Hyperschallraketen (mindestens Mach 5 = 6.125 km/h) können binnen kurzem Moskau erreichen und einen Enthauptungsschlag (Angriff auf die politischen und militärischen Führungsstrukturen) durchführen. Die langsameren Marschflugkörper dagegen sind schwer zu orten. Es geht dabei nicht darum, wie ruhig Wladimir Putin dann noch schlafen kann, sondern wie hoch die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs aus Versehen ist. Ein kleines Missverständnis im Nebel des Krieges könnte ausreichen, um der zündende Funke des Weltuntergangs zu sein. Zwangsläufige Folge ist eine geringere Fehlertoleranz und der Drang zum Präventivschlag. Der, der als Erster zuschlägt, wird vermeintlich belohnt. Dabei sollte doch Abschreckung ursprünglich auf dem Prinzip "Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter" beruhen. Kann sein, dass die Überlebenden weder wissen wer angefangen noch wer gewonnen hat.

Eine höchst besorgniserregende Entwicklung, weil das Ganze heute im Gegensatz zum Kalten Krieg nicht mehr durch Abrüstungs- bzw. Rüstungskontrollverträge eingehegt wird. Möglicherweise bleibt den Militärs gar nichts anderes übrig, als die Verteidigung mehr und mehr zu automatisieren, weil Menschen in der dann noch zur Verfügung stehenden Zeit kaum angemessen reagieren und eine rationale Entscheidung treffen können. Es wird zwar stets beteuert, die letzte Entscheidung treffe immer ein Mensch, aber der technisch bedingte Zwang, die Entscheidung zum Beispiel einer Künstlichen Intelligenz zu überlassen, ist unbestreitbar riesengroß. Mit anderen Worten: Nicht nur Putin wird künftig schlechter schlafen, sondern auch wir. Um nicht missverstanden zu werden: Das ist kein Plädoyer, die Unterstützung der Ukraine zu beenden, vielmehr ein Plädoyer, die Eskalationsspirale nicht durch riskante Maßnahmen anzutreiben.

Hüben wie drüben sehen wir momentan Kräfte der Unvernunft am Werk. Wer glaubt, Donald Trump würde im Konfliktfall rationaler handeln als Wladimir Putin, braucht vielleicht nur ein halbes Jahr zu warten und wird dann eines Besseren belehrt. Natürlich muss man Putin abschrecken, doch die entscheidende Frage ist, mit welchen Mitteln man das tut. Ist die Schwelle von konventionellen zu atomaren Waffensystemen diffus, nützt die daraus resultierende Unsicherheit letztlich keinem der Beteiligten, gerade deshalb kam es ja im Kalten Krieg zu Abrüstungs- bzw. Rüstungskontrollverträgen. Trotz aller Gegensätze siegte die Vernunft, weil damals allen Beteiligten klar war, dass es nie zu einem Atomkrieg kommen darf. Nicht einmal unabsichtlich. Doch das erscheint uns heute als ein Anachronismus aus längst vergangenen Tagen. Nicht umsonst steht die Doomsday Clock auf 90 Sekunden vor Mitternacht. Putin hat mit seinem Überfall auf die Ukraine und den ständigen Atomkriegsdrohungen viel dazu beigetragen. Klug wäre aus meiner Sicht, wenn der Westen die prekäre Lage nicht noch zusätzlich anheizt.

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[1] ZDF vom 11.07.2024
[2] Zeit-Online vom 11.07.2024
[3] Bundesregierung, Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland zur Stationierung weitreichender Waffensysteme in Deutschland, PDF-Datei mit 95 KB
[4] Deutschlandfunk vom 26.09.2008
[5] ntv vom 20.08.2019
[6] U.S. Department of Defense vom 02.08.2019, Statement From Secretary of Defense Mark T. Esper on the INF Treaty

Nachtrag (12.07.2024):
Bei der nicht näher genannten Hyperschallwaffe handelt es sich nach Angaben der Süddeutschen Zeitung "wahrscheinlich um die Long-Range Hypersonic Weapon (LRHW), auch Dark Eagle genannt". Das Waffensystem besteht aus einem Raketen-Booster und dem Common-Hyperson-Glide-Body (C-HGB), der Hyperschall-Gleitkörper soll mit einer Geschwindigkeit von mindestens Mach 5 fliegen und eine Reichweite von 3.000 km haben. Nach Angaben des US-Congressional Research Service ist geplant, dass der Hyperschall-Gleitkörper manövrierfähig ist und eine Geschwindigkeit von bis zu 13.000 miles per hour (20.921 km/h) erreicht. Falls letzteres tatsächlich zutrifft, wäre das vom Flughafen Ramstein in der Pfalz nach Moskau (Entfernung 2.128 km) eine Flugzeit von gerade einmal sechs Minuten. Die destabilisierende Wirkung solcher Waffen ist offenkundig.