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19. Juli 2024, von Michael Schöfer
All Alone Am I (ich bin ganz allein)


Das fehlgeschlagene Attentat auf Donald Trump ändert vielleicht den Verlauf des Wahlkampfs und erhöht seine Chancen, noch einmal das Weiße Haus erobern zu können, doch das macht den Ex-Präsidenten nicht weniger gefährlich für die Demokratie. Egal, wie viel Kreide er auf dem Nominierungsparteitag der Republikaner in Milwaukee gefressen haben mag. Insbesondere, wenn man das schwer nachvollziehbare Urteil des Supreme Courts über die Immunität von US-Präsidenten miteinbezieht. Die Richter haben darin einen faktisch über dem Gesetz stehenden König kreiert, obgleich sich die Verfassung über die Immunität ausschweigt. Sie legt eher das Gegenteil nahe, denn vor Amtsantritt müssen Präsidenten einen Eid ablegen, in dem sie schwören, "die Verfassung der Vereinigten Staaten nach besten Kräften erhalten, schützen und verteidigen" zu wollen. (Artikel II, Abschnitt 1) Präsidenten können sogar aus dem Amt entfernt werden, "wenn sie wegen Verrats, Bestechung oder anderer Verbrechen und Vergehen unter Amtsanklage gestellt und für schuldig befunden worden sind". (Artikel II, Abschnitt 4)

Rechtsexperten sind von dem höchstrichterlichen Urteil entsetzt, bezeichnen es als gefährlich und systemwidrig. Angesichts der ursprünglichen Motive für die Abspaltung vom britischen Mutterland stellt es geradezu eine Verhöhnung der Gründerväter dar. Thomas Jefferson dreht sich bestimmt im Grab herum. In der maßgeblich von ihm verfassten Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 wird das Recht hervorgehoben, eine Regierung nicht nur selbst zu wählen, sondern auch wieder abzusetzen, wenn sie sich für die Interessen der Menschen als schädlich erweist. Der König von Großbritannien (damals Georg III.) wird darin als Tyrann bezeichnet. Und genau zu einem solchen könnte sich Trump entwickeln, sollte er am 5. November tatsächlich gewählt werden. Richterin Sonia Sotomayor hielt für die Minderheit des Obersten Gerichtshofs fest:

"Der Präsident der Vereinigten Staaten ist die mächtigste Person des Landes und möglicherweise der Welt. Wenn er seine Amtsbefugnisse in irgendeiner Weise nutzt, ist er nach der Argumentation der Mehrheit nun vor Strafverfolgung geschützt. Befiehlt er dem Seal Team 6 der Navy, einen politischen Rivalen zu ermorden? Immun. Organisiert er einen Militärputsch, um sich an der Macht zu halten? Immun. Nimmt er eine Bestechung im Austausch für eine Begnadigung an? Immun. Immun, immun, immun. Lasst den Präsidenten gegen das Gesetz verstoßen, lasst ihn die Vorzüge seines Amtes zum persönlichen Vorteil ausnutzen, lasst ihn seine offizielle Macht für böse Zwecke einsetzen. Denn wenn er wüsste, dass er eines Tages für Gesetzesverstöße zur Rechenschaft gezogen werden könnte, wäre er vielleicht nicht so mutig und furchtlos, wie wir es uns wünschen würden. Das ist die Botschaft der Mehrheit heute. Selbst wenn diese Alptraumszenarien niemals eintreten sollten, und ich bete dafür, dass dies nicht der Fall sein wird, ist der Schaden bereits angerichtet worden. Das Verhältnis zwischen dem Präsidenten und dem Volk, dem er dient, hat sich unwiderruflich verschoben. Bei jeder Ausübung seiner Amtsgewalt ist der Präsident nun ein König, der über dem Gesetz steht." [1]

Doch eine Trump-Administration bedeutet nicht nur eine Gefahr nach innen, sondern ebenso eine nach außen. Und zwar für die Verbündeten. Ob Donald Trump die USA wirklich aus der NATO führen wird, weiß er vielleicht noch nicht einmal selbst. Sofern er überhaupt über eine kohärente außenpolitische Strategie verfügt. "Im Dezember 2023 verabschiedete der US-Kongress ein Gesetz, das den US-Präsidenten daran hindert, ohne die Zustimmung des Kongresses aus der NATO auszutreten. Allerdings unterminiert Trump die NATO jetzt schon. Als Präsident müsste er einen offiziellen Austritt gar nicht verkünden. Es reichte schon, wenn er erklären würde, dass Artikel 5 für ihn null und nichtig sei." [2] Artikel 5 des Nordatlantikvertrags regelt die Beistandspflicht und ist der Wesenskern des Bündnisses. Das war freilich noch vor dem Urteil des Supreme Courts. Könnte Trump nun das Gesetz einfach straflos missachten und kurzerhand den NATO-Austritt erklären? Ohne vorherige Zustimmung des Kongresses? Er genießt schließlich Immunität.

Seine Haltung zu den europäischen Verbündeten hat er ohnehin bereits mehrfach klargemacht: "Der 'Präsident eines großen Landes' habe ihn einmal gefragt, ob die USA dieses Land auch dann noch vor Russland beschützen würden, wenn es die Verteidigungsausgaben nicht zahle, sagte Trump. Er habe geantwortet: 'Nein, ich würde Euch nicht beschützen.' Vielmehr noch: Er würde Russland 'sogar dazu ermutigen zu tun, was auch immer zur Hölle sie wollen'." (Wahlkampfrede von Donald Trump in South Carolina) [3] Kurz danach bekräftigte er aufs Neue: "Er werde die NATO-Länder nicht 'beschützen', wenn sie 'die Rechnungen nicht bezahlen'." [4] Rüde Methoden, die an Schutzgelderpressungen durch Mafiosi erinnern. Wahrscheinlich genau seine Absicht.

Anscheinend will er auch Taiwan bloß verteidigen, wenn es dafür zahlt. "'Ich denke, Taiwan sollte uns für den Schutz bezahlen', sagte Trump dem Wirtschaftsmagazin Bloomberg Businessweek auf die Frage, ob er als möglicher Präsident Taiwan vor China beschützen würde. Die USA seien 'nichts anderes als ein Versicherungsunternehmen', sagte Trump - und Taiwan 'gibt uns nichts'." [5] Motto: Bündnisse von Demokratien sind wertlos, wenn dabei keine Profite herausspringen. Donald Trump fühlt sich offenbar eher zum Chief Executive Officer der American Insurance Company berufen, weniger zum künftigen Führer der freien Welt. Während seiner ersten Amtszeit (2017-2020) forderte er von Japan und Südkorea ebenfalls höhere Beiträge zur Verteidigung. [6]

In beiden Ländern wurde bei Gehorsamsverweigerung die Verringerung der US-Truppen und die Aufweichung der Beistandspflicht befürchtet. Wladimir Putin, Xi Jinping und Kim Jong-un würden sich bestimmt darüber freuen. Von der Hilfe zur Selbstverteidigung der Ukraine ganz zu schweigen. Trumps Running Mate J.D. Vance ist "eigentlich egal, was mit der Ukraine passiert". [7] Vance wurde für seine Haltung zum Ukrainekrieg vom russischen Außenminister Sergej Lawrow gelobt. Doch wer von Lawrow gelobt wird, hat definitiv etwas falsch gemacht, der Chefdiplomat ist seit langem Mitglied des Moskauer Verbrecherregimes. Und außerdem, wie sein Herr und Meister Putin, ein notorischer Lügner: Russland bedrohe niemanden und überfalle kein Land, versicherte er der Weltöffentlichkeit noch kurz vor Beginn der "militärischen Spezialoperation". [8] Hoffnungen, dass Trump trotz allem zur Besinnung kommt (Motto: Nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird), sind vermutlich trügerisch.

Der Isolationismus war in den USA schon immer ziemlich stark, für manche mutierte das Land nach dem Zweiten Weltkrieg deshalb zu einer "Weltmacht wider Willen". Und in der Tat war die Rolle der Vereinigten Staaten als Weltpolizist mit hohen finanziellen Lasten verbunden, deren Ergebnisse sich wiederum unter ethischen Gesichtspunkten nicht selten als höchst zweifelhaft herausstellten. Dennoch ist die Frage nicht unberechtigt, ob der Rückzug in die selbstgewählte Isolation wirklich hilfreich wäre. Können die USA ohne ihre Verbündeten in Europa und Asien überhaupt ökonomisch und militärisch bestehen? Das unverwundbare Land zwischen zwei Ozeanen ist nur eine Reminiszenz an längst vergangene Zeiten, die spätestens mit Pearl Habor zu Ende gingen. Der Song "All Alone Am I" (ich bin ganz allein) von Brenda Lee aus dem Jahr 1963 mag ein veritabler Ohrwurm sein, als außenpolitisches Konzept ist er jedoch untauglich. Zudem betrauert Brenda Lee darin im Nachhinein den Abschied. Russland und China würden sicherlich in jedes Vakuum hineinzustoßen versuchen, das aus den isolationistischen Bestrebungen einer möglichen Trump-Regierung resultiert. Und sind Verbündete erst einmal weg, kommen sie so schnell nicht wieder, ihre Rückeroberung wäre wohl nur um den Preis eines Dritten Weltkriegs möglich. Davor dürften dann wohl auch die USA zurückschrecken.

"Die Zeiten, in denen wir uns auf andere völlig verlassen konnten, die sind ein Stück weit vorbei." (Angela Merkel 2017) Absolut richtig, allerdings hat sie daraus nicht die entsprechenden Schlüsse gezogen, konkrete Folgen hatte ihre Erkenntnis nämlich keine. Eine Konsequenz ist unumgänglich: Wir Europäer müssen uns von den im Vergleich zu früher viel unberechenbarer gewordenen USA emanzipieren - sowohl politisch als auch militärisch. Wir müssen unsere Freiheit künftig selbst verteidigen. Und das ganz unabhängig von Donald Trump. Ökonomisch wären wir dazu bestimmt in der Lage, auch wenn es zugegebenermaßen schwer ist. Was fehlt, ist lediglich der politische Wille.

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[1] Supreme Court of the United States vom 01.07.2024, PDF-Datei mit 1,1 MB, Übersetzung mithilfe des Deepl-Translators
[2] IPG vom 16.02.2024
[3] DW vom 11.02.2024
[4] IPG a.a.O.
[5] Zeit-Online vom 17.07.2024
[6] Der Standard vom 18.11.2019
[7] Spiegel-Online vom 17.07.2024
[8] ntv vom 21.01.2022