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| Impressum 30. Juli 2024, von Michael Schöfer Die Ampel lacht sich bestimmt ins Fäustchen Man soll ja normalerweise nicht mit schwer beweisbaren Unterstellungen arbeiten. Doch wenn man ein bisschen darüber nachdenkt und sich den zeitlichen sowie inhaltlichen Ablauf vor Augen führt, liegt die Sache im Grunde klar auf der Hand: Die Union ist bei der Wahlrechtsreform auf einen Trick der Ampelregierung hereingefallen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts lässt sie sich trotzdem als Siegerin feiern. Kann natürlich auch sein, dass sie es noch gar nicht realisiert hat. In Wahrheit hat nämlich die Ampel gesiegt. Immerhin kann ich meine Unterstellung mit ein paar Indizien untermauern: Am 24. Januar 2023 legten die Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP mit der Bundestagsdrucksache 20/5370 ihren Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vor. [1] Dieser Entwurf enthielt weiterhin die seit vielen Jahren im Wahlrecht enthaltene Grundmandatsklausel (bei der Sitzverteilung werden auch Parteien berücksichtigt, die unter der 5-Prozent-Hürde bleiben, aber mindestens drei Wahlkreise gewinnen). § 4 Abs. 2 Bundeswahlgesetz sollte lauten:
Zwischen den Parteien werden die Sitze im Verhältnis der
Zahl der Hauptstimmen, die im Wahlgebiet für die
Landeslisten der Partei abgegeben wurden, nach § 5 verteilt
(Oberverteilung). Nicht berücksichtigt werden dabei
1. die Hauptstimmen derjenigen Wähler, die ihre Wahlkreisstimme für einen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 6 Absatz 2 erfolgreich ist, und 2. Parteien, die weniger als 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Hauptstimmen erhalten haben, wenn sie in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Wahlkreisstimmen errungen haben. (Hervorhebung von mir) Im Umkehrschluss bedeutet die Klausel in Nr. 2, dass Parteien die weniger als 5 Prozent erhalten, aber mindestens drei Wahlkreise erringen, berücksichtigt werden. Juristen drücken sich häufig bloß komplizierter aus, als es bei Nichtjuristen üblich ist. Der Groll der Union richtete sich anfangs nur gegen die Nichtberücksichtigung von bestimmten Wahlkreisgewinnern, falls das Ergebnis einer Partei bei der für die Sitzverteilung allein maßgeblichen Verhältniswahl weniger Mandate vorsieht. Das sogenannte Zweitstimmendeckungsverfahren. "Die CSU hätte 2021 auf elf ihrer 45 Direktmandate verzichten müssen, wenn das neue Wahlrecht damals schon gegolten hätte", rechnete der Vorwärts vor. [2] Vermutlich beging die Union dann den entscheidenden Fehler, sie kündigte den Gang nach Karlsruhe an: "Die CSU nennt die Ampel-Pläne für eine Reform des Wahlrechts 'verfassungswidrig' und droht mit einer Klage. 'Die Ampel betreibt mit ihrem Vorschlag zur Wahlrechtsreform organisierte Wahlfälschung', sagte CSU-Generalsekretär Martin Huber. 'Direkt gewählten Abgeordneten den Einzug ins Parlament zu verweigern, kennen wir sonst nur aus Schurkenstaaten.'" [3] Der ruppige Umgangston ist für die CSU charakteristisch. Wohlgemerkt, zu jenem Zeitpunkt war die Grundmandatsklausel noch im Gesetzentwurf enthalten. Vermutlich haben sich die Ampelparteien angesichts der Klagedrohung überlegt, was man dem Bundesverfassungsgericht als "Verhandlungsmasse" anbieten könnte. Motto: "Wenn ich 100 Prozent will, fordere ich eben 130 Prozent. Falls ich dann 30 Prozent gestrichen bekomme, ist mein ursprüngliches Anliegen durchgegangen." Offenbar ist es genau so gelaufen, denn in allerletzter Minute haben die Ampelparteien die Grundmandatsklausel aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Am 17. März 2023 beschlossen die Bundestagsabgeordneten mehrheitlich die zwei Tage zuvor vom Innenausschuss geänderte Fassung. Die Grundmandatsklausel soll im Gesetzentwurf entfallen, hieß es dort plötzlich. [4] § 4 Abs. 2 BWahlG in der vom Bundestag beschlossenen Fassung lautete nun:
Zwischen den Parteien werden die Sitze im Verhältnis der
Zahl der Zweitstimmen, die im Wahlgebiet für die
Landeslisten der Partei abgegeben wurden, nach § 5 verteilt
(Oberverteilung). Nicht berücksichtigt werden dabei
1. die Zweitstimmen derjenigen Wähler, die ihre Erststimme für einen Bewerber abgegeben haben, der gemäß § 6 Absatz 2 erfolgreich ist, und 2. Parteien, die weniger als 5 Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen erhalten haben. Der Halbsatz, "wenn sie in weniger als drei Wahlkreisen die meisten Wahlkreisstimmen errungen haben", fehlt. Obendrein blieb man bei den üblichen Termini Erst- und Zweitstimme anstatt Wahlkreis- und Hauptstimme. Seitdem galt: Parteien müssen bei Bundestagswahlen bundesweit mindestens auf 5 Prozent der Zweitstimmen bekommen, um in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Ausnahmen gibt es keine mehr. Punkt. Es kam, wie es kommen musste: CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sprach empört von "Wahlrechtsmanipulation", die Koalitionsvorlage sei "falsch, fehlerhaft, verfassungswidrig und ein großes Schurkenstück". Der anfangs nur angedrohte Gang nach Karlsruhe wurde vollzogen. Das haben die Ampelparteien aber anscheinend vorhergesehen, weshalb der Gesetzentwurf im März 2023 kurz vor der Abstimmung um die "Verhandlungsmasse" angereichert wurde. Ohne dafür den Beweis antreten zu können unterstelle ich, dass dabei von vornherein die Verfassungswidrigkeit des Wegfalls der Grundmandatsklausel einkalkuliert wurde, um den ursprünglichen Gesetzentwurf vom Januar 2023 durchzubekommen. Und es hat ja auch wie erwartet funktioniert. Das höchste deutsche Gericht hat zwar den Wegfall der Grundmandatsklausel gestoppt, aber die Nichtberücksichtigung von Wahlkreisgewinnern gebilligt. "Das Zweitstimmendeckungsverfahren ist mit dem Grundgesetz vereinbar." [5] Der
CSU-Vorsitzende Markus Söder sprach zwar von einer Klatsche
für die Ampel [6], doch wenn man es in allen Einzelheiten
analysiert, war das Urteil eine Klatsche für die Union. Denn
der Gesetzentwurf vom Januar 2023, den sie als
verfassungswidrig bezeichnete und der sie an einen
Schurkenstaat erinnerte, ging in Karlsruhe ohne Abstriche
durch. Gehört Deutschland jetzt zur "Achse des Bösen"? Wenden
Sie sich bitte an CSU-Generalsekretär Martin Huber, der weiß
Bescheid.
Zufall oder hohe Staatskunst? Wie dem auch sei, jedenfalls lachen sich die Politiker der Ampel bestimmt ins Fäustchen und lassen die Union ruhig jubeln, denn sie wissen schließlich, wer sich am Ende wirklich durchgesetzt hat. Und vor allem wie. ----------
[1]
Deutscher Bundestag, Drucksache
20/5370, PDF-Datei mit 401 KB
[2]
Vorwärts vom 20.01.2023
[3]
tagesschau.de vom 16.01.2023
[4]
Deutscher Bundestag vom 15.03.2023,
Drucksache 20/6015, PDF-Datei mit 276 KB
[5] Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 64/2024 vom 30.07.2024 [6]
tagesschau.de vom 30.07.2024
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