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03. August 2024, von Michael Schöfer
Völkerrecht? Klar, aber doch nicht gerade jetzt!


Genau davor haben die Ukrainer Angst: Dass sie mit der Zeit vom Westen im Stich gelassen und der machiavellistischen Realpolitik geopfert werden, sobald der Beistand den Demokratien politisch lästig und finanziell zu teuer geworden ist. Die Ukrainer befürchten, der Westen werde dann seine lauthals propagierten Werte nicht mehr ernst nehmen und hintenherum faule Kompromisse zulasten der Ukraine eingehen. Ungefähr so, wie sich das derzeit in puncto Westsahara anbahnt.

Der Westsaharakonflikt eskalierte Mitte der siebziger Jahre im Zuge der Entkolonialisierung, als die Kolonialmacht Spanien das Wüstengebiet ganz im Westen des afrikanischen Kontinents verließ. Wie so oft ist die Gemengelage aufgrund von divergierenden Ansprüchen komplex. Wichtig erscheinen mir allerdings zwei wesentliche Gesichtspunkte. Erstens der Auftrag der Generalversammlung der Vereinten Nationen an den Internationalen Gerichtshof, den Status der Westsahara juristisch zu klären. Zweitens das daraufhin erstellte Gutachten des IGH, das dem Selbstbestimmungsrecht der Sahrauris den Vorrang vor den historischen Ansprüchen Marokkos und Mauretaniens gab. Die Bevölkerung der Westsahara sollte in einem Referendum selbst über ihre Zukunft entscheiden. Doch Marokko akzeptierte das nicht, marschierte in die Westsahara ein und hält seitdem den Großteil des Wüstengebiets besetzt.

Deutschland hat bislang weder die Souveränität Marokkos über die Westsahara noch die von der linksgerichteten Polisario ausgerufene Demokratische Arabische Republik Sahara anerkannt. Aber die Front der westlichen Staaten, die sich in ihren Verlautbarungen gerne für das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker und gegen den Gebietserwerb durch Gewalt aussprechen, bröckelt zusehends. Im Dezember 2020 erkannten die USA unter Donald Trump die Souveränität Marokkos über die Westsahara an, zuvor wurde Israel durch Marokko anerkannt. Ein diplomatisches Koppelgeschäft.

Nun hat auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron angekündigt, "einen von Marokko 2007 vorgelegten Plan zur Zukunft der Westsahara [zu] unterstützen. (…) Eine Autonomie des Gebiets unter marokkanischer Souveränität sei der 'Rahmen', um zu einer Lösung zu kommen, schrieb der französische Präsident. Frankreich sehe die Westsahara als Teil der derzeitigen und künftigen Souveränität Marokkos und werde diese Position künftig auch international vertreten." [1] Algerien, Verbündeter der Polisario, zog daraufhin verärgert seinen Botschafter aus Paris ab.

Der Westen ist also durchaus bereit, unter bestimmten Umständen den völkerrechtlich verbotenen Gebietserwerb durch Gewalt zu billigen, sofern sich für ihn daraus politische oder ökonomische Vorteile ergeben. Motto: Das heilige Prinzip in allen Ehren, aber doch nicht immer und überall. Marokko ist ein begehrter Partner, insbesondere bei der auf Erneuerbaren Energien basierenden Energiepolitik, das Königreich soll Europa in naher Zukunft mit eFuels und Wasserstoff beliefern. Dass es Marokko obendrein mit den Menschenrechten nicht so genau nimmt, fällt da kaum ins Gewicht.

Andere Beispiele: Kürzlich hat der Internationale Gerichtshof in einem Gutachten festgestellt, dass Israel in den besetzten Gebieten gleich mehrfach gegen das Völkerrecht verstößt. Die israelische Besetzung palästinensischer Gebiete sei daher insgesamt rechtswidrig, befanden die Richter in Den Haag. [2] Und was ist passiert? Außer Lippenbekenntnissen zum Völkerrecht nichts, jedenfalls keine Aufforderung, die besetzten Gebiete endlich zu räumen. Die israelische Besatzungspolitik wird vom Westen seit 1967 stillschweigend akzeptiert. Auch die völkerrechtswidrige türkische Besetzung Nordzyperns dauert nun bereits seit 1974 an, das Land ist dessen ungeachtet nach wie vor in der NATO, obgleich die Mitgliedstaaten im Nordatlantikvertrag versprachen, sich "in ihren internationalen Beziehungen jeder Gewaltandrohung oder Gewaltanwendung zu enthalten". Die vielbeschworene "Herrschaft des Rechts"? Pustekuchen!

Kein Wunder, dass der russische Diktator Wladimir Putin glaubt, langfristig mit der Annexion ukrainischer Gebiete tatsächlich durchzukommen. Sein Kalkül: Der Westen werde irgendwann nachgeben, seine hehren Prinzipien über Bord werfen und sie der Realpolitik opfern. Hat er damit etwa unrecht? Sind die Befürchtungen der Ukrainer wirklich vollkommen unbegründet? Dergleichen ist leider schon oft genug passiert: Sobald der politische oder ökonomische Gewinn lukrativ erscheint, ist der Westen allzu gerne bereit, beide Augen fest zuzudrücken. Völkerrecht? Klar, aber doch nicht gerade jetzt!

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[1] Spiegel-Online vom 30.07.2024
[2] LTO vom 24.07.2024