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05. August 2024, von Michael Schöfer
Unlogisch und entlarvend


Sprache kann aufhetzen, das erleben wir ja gerade in den Sozialen Medien zur Genüge. Sprache kann aber auch verharmlosen und dadurch schlimme Absichten verschleiern, dazu gehört der in der rechten Szene gebräuchliche Begriff "Remigration". Der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner ist hierzulande einer breiteren Öffentlichkeit durch seine Teilnahme an dem berühmt-berüchtigten Treffen in Potsdam bekannt geworden, auf dem er einen Vortrag über "Remigration" hielt. [1] Seitdem kommt es bei seinen Auftritten immer wieder zu Protesten.

Sellner selbst sagt zu dem Correktiv-Bericht: "Er habe während des Vortrags mehrfach deutlich gemacht, daß keine Unterschiede zwischen deutschen Staatsbürgern gemacht werden dürften. Der Begriff 'Remigration' beziehe sich allerdings nicht ausschließlich auf Abschiebungen. Es gehe dabei auch darum, auf 'nicht-assimilierte Staatsbürger wie Islamisten oder Clankriminelle' durch eine 'Politik der Leitkultur und Assimilation' einen Anpassungsdruck auszuüben. Damit sollen auch 'Anreize zur freiwilligen Rückkehr' einhergehen." [2]

Sellner entlarvt sich dadurch bloß selbst, denn wenn man seine Äußerungen mit etwas Logik analysiert, werden die Widersprüche schnell offenkundig. Er beteuert zwar, dass man "keine Unterschiede zwischen deutschen Staatsbürgern" machen darf, macht sie dann aber anschließend doch. "Staatsbürger" sind definitionsgemäß nicht bloß "Einwohner", zu denen auch hier ansässige Ausländer gehören, sondern ausschließlich Menschen mit deutscher Staatsangehörigkeit. Staatsbürger sind Menschen mit deutschem Pass, also Deutsche. Und das ungeachtet ihrer Herkunft. "Assimilation" bedeutet "Angleichung, Anpassung", "nicht-assimilierte Staatsbürger" sind demzufolge "nicht-angepasste Deutsche". Und auf die will Sellner erklärtermaßen durch eine "Politik der Leitkultur und Assimilation" einen "Anpassungsdruck" ausüben. Klingt harmlos, und das soll es auch, ist indes ohne Zweifel verfassungswidrig.

"Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt", sagt das Grundgesetz in Artikel 2 Abs. 1. Die Grenzen der freien Entfaltung der Persönlichkeit sind daher das Strafrecht respektive das Persönlichkeitsrecht der Mitbürger. Erlaubt ist, was nicht ausdrücklich verboten ist. Kein Deutscher braucht sich einer wie auch immer gearteten "Leitkultur" zu unterwerfen. Ich kann Frauen lieben, und wenn ich mag auch Männer. Ich kann mitten im Winter mit Flip-Flops durch die Stadt laufen oder um Mitternacht im furchterregenden Gothic-Outfit durch den Stadtpark, ich darf eine exotische Brille à la Elton John tragen oder einen dicken Nasenring. Ein asketischer Lebensstil ist genauso erlaubt wie ein hedonistischer, Keuschheit wird juristisch nicht anders bewertet als Promiskuität. Fast jede Geschmacklosigkeit ist legal. Und all das ist laut Grundgesetz mein Recht, dafür muss ich bei keinem um Genehmigung nachsuchen, ich muss mich bloß an die Gesetze halten.

Obendrein hat noch niemand eine rechtsgültige Definition von "Leitkultur" präsentiert. Was ist damit konkret gemeint? Gehören in Bayern das Weißbier, die Leberkassemmel, das Kruzifix und die Lederhose zur Leitkultur? Ist also ein abstinent und vegan lebender Atheist in Bayern ein "nicht-assimilierter" Fremdkörper? Es gibt keine allgemeingültige deutsche Leitkultur, dazu sind die Kulturen innerhalb Deutschlands viel zu unterschiedlich. Was der konservative Sauerländer verachtet, ist dem lebenslustigen Kölner besonders wichtig. Selbst die Dialekte sind so unähnlich, dass man sich oft nur über die Brücke des Hochdeutschen untereinander verständigen kann, denn wer versteht schon südlich des Weißwurstäquators Plattdeutsch oder Kölnisch? Als Deutscher darf ich sogar zum Islam konvertieren und eine rigide Auslegung befürworten. Buddhismus, Hinduismus, Astrologie oder Schamanismus - anything goes. Vielleicht für die Mehrheit weder schön noch wünschenswert, aber dank der Religionsfreiheit (Artikel 3 Abs. 3 GG) absolut im Rahmen dessen, was die Verfassung erlaubt. Ohnehin sind Grundrechte im Wesentlichen Minderheitsrechte, weil man die Rechte der Mehrheit in der Regel nicht zu schützen braucht. Die gemeinsame Klammer unserer Gesellschaft ist allein das Grundgesetz. Und alle Forderungen, die darüber hinausgehen, sind rechtswidrig.

Total unlogisch wird das Ganze, wenn Sellner über "Anreize zur freiwilligen Rückkehr" schwadroniert. Reden wir an dieser Stelle einmal über mich: Ich bin blond, blauäugig und soweit ich das weiß, stammen alle meine Vorfahren aus der Pfalz. Das, was manche scherzhaft einen "Biodeutschen" nennen. Ich habe zwar nie Ahnenforschung betrieben, aber vielleicht hat es meine Vorfahren in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges dorthin verschlagen. Oder während der Völkerwanderung, die zum Zusammenbruch des Römischen Reiches führte. Die Pfalz gehörte bekanntlich von 50 v. Chr. bis zum 5. Jahrhundert n. Chr. zu Rom. Möglicherweise stamme ich sogar von den Kelten ab, die die Pfalz vor den Römern bewohnten. Wer weiß das schon? Es ist mir ehrlich gesagt auch egal. Nehmen wir rein hypothetisch an, ich wäre nach Ansicht von Martin Sellner ein "nicht-assimilierter Staatsbürger". Warum auch immer. Würde er mich durch einen (laut Grundgesetz rechtswidrigen) "Anpassungsdruck" zur "freiwilligen Rückkehr" zwingen? Wohin sollte ich überhaupt zurückkehren, schließlich leben meine Vorfahren wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden hier? Das wird mir wohl auch Sellner nicht beantworten können, denn das Ansinnen meiner "Rückkehr" ist schon in Ermangelung eines nachvollziehbaren Ziels völlig absurd. "Remigration" gilt anscheinend nicht für "Biodeutsche", alle anderen Auslegungen sind unsinnig. Allerdings beruhigt mich das keineswegs.

Vermutlich meint Sellner Staatsbürger mit Migrationshintergrund, die selbst oder deren Vorfahren erst in jüngster Zeit zugewandert sind. Beispielsweise aus der Türkei, aus Afrika oder dem Orient. Der Logik nach ist keine andere Schlussfolgerung möglich: Er unterscheidet somit nach der ethnischen Herkunft der Staatsbürger, weil die bei Staatsbürgern mit Migrationshintergrund im Gegensatz zu "Biodeutschen" nachvollzogen werden kann. Doch auch Deutsche mit Migrationshintergrund stehen unter dem Schutz des Gleichheitsgebots unserer Verfassung. "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." (Artikel 3 Abs. 1 GG) Deutscher ist, wer einen deutschen Pass hat. Punkt. Ob er selbst oder seine Vorfahren zugewandert sind, ist vollkommen unerheblich. "Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." (Artikel 3 Abs. 3 GG)

Es dürfen keine Unterschiede zwischen deutschen Staatsbürgern gemacht werden? Richtig! Deutsche, deren Vorfahren hier seit Jahrtausenden leben, darf Sellner laut Verfassung nicht "remigrieren". Deutsche, die selbst oder deren Vorfahren erst vor kurzem zugewandert sind, aber ebenso wenig. Deutsche Islamisten können genauso wenig "remigriert" werden wie deutsche Clankriminelle. Schon gar nicht in einen ominösen "Musterstaat" irgendwo in Nordafrika. Die deutsche Staatsangehörigkeit, mithin das Recht hier zu leben, darf nur in wenigen Ausnahmefällen zwangsweise entzogen werden. Aber keinesfalls dann, wenn irgendjemand behauptet, der Betroffene sei nicht assimiliert. Wen meint Sellner also mit "nicht-assimilierten Staatsbürgern" genau?

Unter dem Strich bleibt gar kein angeblich "nicht-assimilierter Staatsbürger" übrig, den man legalerweise "remigrieren" könnte. Zumindest, wenn es nach den derzeit gültigen Gesetzen geht. Gerade das hat ja viele so erschreckt, weil sie daraus ihre eigenen Schlüsse gezogen haben. Neben den 12,9 Millionen Menschen ohne deutschen Pass fühlen sich auch die 21,2 Millionen Deutschen mit Migrationshintergrund von den Remigrationsplänen Sellners bedroht. Aber zugleich zahlreiche der 58,7 Millionen Deutschen ohne Migrationshintergrund, wenn sie in ihrem Lebensstil auch nur ein Jota vom Mainstream abweichen (Andersdenkende jeglicher Couleur, sexuelle Minderheiten etc.). Oder schlicht aus dem Grund, weil sie überzeugte Demokraten sind. Denn wer glaubt schon den Beteuerungen von Rechtsextremisten, sie würden sich ans Grundgesetz halten? Man darf nicht naiv sein, wir Deutsche sind diesbezüglich gebrannte Kinder.

Alles in allem sind die Äußerungen von Martin Sellner in sich unlogisch und lassen ein rechtswidriges Vorgehen vermuten, sollten die Rechtsextremisten jemals wieder an die Macht kommen. Und hoffentlich sind die Wählerinnen und Wähler so klug, es niemals wieder dazu kommen zu lassen.

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[1] Correctiv vom 10.01.2024, Geheimplan gegen Deutschland
[2] Junge Freiheit vom 10.01.2024