Home
| Archiv | Leserbriefe
| Impressum 18. August 2024, von Michael Schöfer Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen Dieser Satz, den Marie Antoinette (1755-1793) aber angeblich nie geäußert haben soll, ist nach wie vor der Klassiker, wenn man auf die Abgehobenheit des Establishments hinweisen will. Ob Legende oder nicht, er passt jedenfalls hervorragend. Keine Legende ist, dass Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) den Menschen empfohlen hat, sich angesichts der Wohnungsnot in den Großstädten umzuorientieren. In anderen Regionen gebe es noch genug preisgünstigen Wohnraum. "Knapp zwei Millionen Wohnungen in Deutschland stehen leer. Zwei Drittel der Bevölkerung lebt zudem in Regionen, wo Wohnen bezahlbar ist. Aber in unseren Großstädten oder Metropolregionen herrscht ein riesiger Bedarf. (…) Wir suchen gerade mit der Wissenschaft und anderen Ressorts nach neuen Wegen, Menschen für die Nutzung von leerstehendem Wohnraum zu interessieren. Gerade in kleinen und mittelgroßen Städten ist das Potenzial groß, weil es da auch Kitas, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten und Ärzte gibt." [1] Überspitzt formuliert sagt Klara Geywitz: Wenn sie keine Wohnungen bekommen, sollen sie doch aufs Land ziehen. Marie Antoinette lässt grüßen. So riesig ist der Unterschied in der Abgehobenheit nicht, denn die Adressaten fragen sich nachgerade, ob sie wirklich in der gleichen Welt leben wie die Bundesbauministerin. Die Realität der Wohnungssuchenden sieht nämlich anders aus. Eine mittelgroße Stadt hat zwischen 20.000 und 100.000 Einwohnern, eine Kleinstadt zwischen 5.000 bis unter 20.000. Nehmen wir einmal Neustadt an der Weinstraße (Autokennzeichen: NW): Mit knapp 54.000 Einwohnern ist die Stadt eine typische Mittelstadt, die in Luftlinie von der Metropole Mannheim (317.000 Ew.) 28 km entfernt ist. Billiger ist es dort aber nicht. Momentan kostet z.B. die günstigste Erdgeschosswohnung in NW laut Immoscout 685 Euro kalt bzw. 910 Euro warm. Wenn man das Einkommen der Bundesbauministerin hätte, wäre das kein Problem. Das Nettogehalt eines Arbeitnehmers lag jedoch hierzulande 2023 im Schnitt bei 2.426 Euro, die Anmietung dieser Wohnung würde demzufolge eine Mietbelastungsquote von 37,5 Prozent bedeuten. Ein Rentner hingegen bekommt nach 45 Versicherungsjahren im Schnitt lediglich 1.503 Euro ausgezahlt (Stand 01.07.2023) und hätte somit eine Mietbelastungsquote von 60,5 Prozent. Die Mietbelastungsquote gilt bis maximal 30 Prozent des Nettoeinkommens als vertretbar. Neustadt ist vergleichsweise gut an den ÖPNV angeschlossen, was man freilich von vielen kleineren Gemeinden in der näheren Umgebung nicht behaupten kann, ein eigenes Auto ist daher für viele unverzichtbar. Pirmasens (gut 40.000 Ew.) am Westrand des Pfälzer Waldes hat zwar wenig Arbeitsplätze, dafür tatsächlich noch relativ viel günstigen Wohnraum anzubieten. Doch wer etwa zu seinem Arbeitsplatz in der rund 70 km entfernten BASF fahren will, sollte sich bei der Deutschen Bahn auf lange Fahrtzeiten gefasst machen: im morgendlichen Berufsverkehr laut Fahrplan zwischen 1 Std. 24 Min. und 2 Std. 25 Min. Einfach, wohlgemerkt. Vom maroden Schienennetz und den vielen Verspätungen und Zugausfällen ganz zu schweigen. Ernüchternde Erkenntnis: Mit Geywitz' neuen Wegen wird das wohl nichts. Zumindest nicht so schnell. Hinzu kommt, dass der CO2-Preis peu à peu steigt, was das Pendeln zum Arbeitsplatz entsprechend verteuert. Die meisten Arbeitsplätze liegen halt nach wie vor dort, wo das Wohnen am teuersten ist: in den Großstädten. Und nicht jede Arbeit kann man im Homeoffice erledigen. Ausgerechnet die, die wenig verdienen und demzufolge am meisten unter den hohen Mieten leiden, arbeiten vergleichsweise selten von zu Hause aus. [2] Für Führungskräfte und Wissenschaftler wäre der Wegzug aus den Ballungsgebieten eher machbar, für Handwerker und Dienstleistungskräfte naturgemäß am wenigsten. Die Wohnungsnot schlägt aber bei Letzteren am härtesten zu, während sich Besserverdienende selbst luxuriös ausgestattete Innenstadtwohnungen leisten können. Die Kassiererinnen im Supermarkt oder die Arzthelferinnen in den Arztpraxen können davon nur träumen. Pendeln ist also für viele Pflicht, wenn sie wie von Geywitz vorgeschlagen aus den Ballungsgebieten fortziehen. Die Ampelregierung hat es aber bislang immer noch nicht geschafft, das Klimageld (die pauschale Pro-Kopf-Rückvergütung für den steigenden CO2-Preis) unter Dach und Fach zu bringen. Zudem ist fraglich, ob und wenn ja in welcher Form die Entfernungspauschale (vulgo Pendlerpauschale) erhalten bleibt, denn die Bundesregierung hat bereits ihre Neuordnung angekündigt. Details sind allerdings noch keine bekannt. Einerseits ist die Subventionierung des Pendelns aus klimapolitischen Gründen zugegebenermaßen total unvernünftig, andererseits kann man sie aus sozialen Gründen nicht kürzen oder sogar ersatzlos streichen. Die Wohn- und Arbeitsverhältnisse ändern sich schließlich nicht über Nacht, und Bundesbauministerin Klara Geywitz will ja die Menschen ausdrücklich ins Umland locken, was wiederum die Notwendigkeit des Pendelns zum Arbeitsplatz erhöht. Die Bundesregierung sagt mithin einmal hü, ein andermal hott. Bestenfalls ein Nullsummenspiel: Falls es optimal läuft eine 200 Euro geringere Miete, dafür 200 Euro höhere Benzinkosten. Wie gesagt, falls es optimal läuft. Nach Politik aus einem Guss klingt das nicht. Klara Geywitz will mit ihrem Vorschlag wahrscheinlich nur das Versagen der Bundesregierung kaschieren. 400.000 neue Wohnungen sollten pro Jahr dazukommen, so steht es im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien. 2023 waren es gleichwohl nur 294.400. Tendenz sinkend. Wohnungsbauförderung mit miserablen Ergebnissen. Szenenwechsel: Im ARD-Magazin Monitor war kürzlich zu sehen, mit welchem Erfolg der Staat Millionäre fördert. Bei denen klappt das viel besser. Josef Rick war früher Unternehmensberater und legte den Journalisten aus dieser Zeit eine Steuererklärung vor: Einkommen fast eine Million Mark (exakt 988.933 DM), Einkommensteuer null Prozent. Nicht eine einzige Mark hat er damals gezahlt, legale Steueroptimierung macht's möglich. [3] Und daran hat sich seitdem nicht allzu viel geändert. Müssten Millionäre den Durchschnittssteuersatz von Arbeitnehmern zahlen, würden sie bestimmt laut aufschreien. Tun sie aber nicht - weder prozentual so viel zahlen noch sich lauthals darüber beklagen. Ausnahmen wie Marlene Engelhorn bestätigen bloß die Regel. Seit der Aussetzung der Vermögensteuer im Jahr 1997 sind dem Staat allein dadurch geschätzte 380 Mrd. Euro entgangen (ø p.a. 13,6 Mrd.), davon hätte man jede Menge preisgünstige Wohnungen bauen können. Zum Vergleich: Die offenkundig unzureichende Förderung des sozialen Wohnungsbaus beträgt in diesem Jahr bescheidene 3,15 Mrd. Euro. Sozialdemokratin Klara Geywitz sieht es trotzdem positiv. Was Josef Rick heute tut? Kein Witz: Er ist Immobilienunternehmer und baut Wohnungen. Natürlich in bester Lage, sprich Luxuswohnungen, also nichts, was sich Hinz und Kunz leisten können. Wenigstens einen Rat bekommen Hinz und Kunz von der Bundesregierung, und den sogar völlig umsonst: Wenn ihr in der Großstadt keine Wohnung bekommt, zieht doch einfach aufs Land. Der Dank der Bevölkerung ist der Bundesregierung gewiss. Jedes Jahr sollen hierzulande 8,5 Millionen Menschen umziehen, da kommen ziemlich viele dankbare Wählerinnen und Wähler zusammen. Merkt man ja am Stimmergebnis der SPD. ----------
[1]
Neue Osnabrücker Zeitung vom
27.07.2024
[2]
Statistisches Bundesamt,
Erwerbstätige, die von zu Hause aus arbeiten
[3] Monitor: Reichtum verpflichtet? vom
01.08.2024, ab Min. 8:15 Min.
Nachtrag
(19.08.2024):
Wenn es noch eines Beweises für die Abgehobenheit der Berliner Politiker-Blase bedurft hätte, ist er spätestens damit erbracht: "Die Mietpreisbremse ist offenbar weitgehend wirkungslos", konstatiert tagesschau.de. Viele Mieter würden sie gar nicht kennen und lediglich eine kleine Minderheit traut sich überhaupt, sie beim Vermieter einzufordern. Notfalls mit einer Klage. Auf die Frage, ob der Staat nicht automatisch aktiv werden müsste, um die Mietpreisbremse durchzusetzen, antwortete Bundesbauministerin Klara Geywitz lakonisch: "Man könne ja vor Gericht gehen, wenn die Gesetze verletzt seien. 'Aber wir haben natürlich keinen Babysitter-Nanny-Staat, der sich in Vertragsbeziehungen zwischen zwei Privatpersonen mischt.'" [4] Ups,
das hätte FDP-Chef Christian Lindner kaum besser sagen können.
So kann man Vertragsfreiheit natürlich auch verstehen. Da
mischen wir uns gar nicht erst ein. Anything goes. Und wo kein
Kläger, da kein Richter. Ist halt so. Als ginge es nicht um
ein existenzielles Grundbedürfnis, sondern bloß um den Kauf
von überflüssigem Schnickschnack.
Im
Grundsatzprogramm der SPD steht auf Seite 60: "Wir schützen
die Rechte der Mieter." [5] Das ist die sozialdemokratische
Theorie, die sozialdemokratische Praxis sieht leider anders
aus. Die Geywitzsche Quintessenz lautet nämlich: Wenn es um
die Durchsetzung dieser Rechte geht, lassen wir die Mieter im
Regen stehen. Wenig verwunderlich, dass sich viele Wählerinnen
und Wähler alleingelassen fühlen und angewidert abwenden.
[4]
tagesschau.de vom 19.08.2024
[5] SPD, Hamburger Programm vom
28.10.2007, PDF-Datei mit 2,2 MB
|