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| Impressum 23. August 2024, von Michael Schöfer Es ist wirklich zum Mäusemelken Die Wiedervereinigung und die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl sind für mich das Paradebeispiel für den Gegensatz von Wahrheit und verlogener Parteipropaganda. Der damalige Kanzlerkandidat der SPD, Oskar Lafontaine, sprach sich gegen einen Umtauschkurs von 1:1 aus (Tausch DDR-Mark gegen D-Mark). Er argumentierte wie folgt: "Wenn wir mit der harten D-Mark sofort zum Kurs von 1:1 in die DDR gehen, wird die ostdeutsche Wirtschaft schlagartig konkurrenzunfähig. Die Arbeitslosigkeit wird enorm steigen. Daraus ergibt sich, dass über viele Jahre große Summen gezahlt werden müssen, um die Lebensbedingungen der Menschen in Ost-Deutschland einigermaßen denen im Westen anzugleichen und die Infrastruktur und die Produktion aufzubauen." [1] Lafontaine sagte den Menschen eine Wahrheit, die sie nicht hören wollten. Im Unterschied zum seinerzeit amtierenden Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), der den Menschen in der ehemaligen DDR vollmundig "blühende Landschaften" versprach. Der "Kanzler der Einheit" zog es vor, dem Wahlvolk unrealistische Wunschträume zu präsentieren. Es kam, wie es kommen musste: Lafontaine hatte zwar recht, doch Kohl wurde gewählt. Resultat: Die fünf neuen Länder befinden sich auch 34 Jahre nach der Wiedervereinigung bei der Pro-Kopf-Wertschöpfung noch immer am unteren Ende des Rankings. [2] Was die regionale Verteilung des Wohlstands angeht existieren nach wie vor große Unterschiede. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, den Wählerinnen und Wählern "Das habt ihr nun davon" nachzurufen. Doch das hilft uns jetzt auch nicht weiter. Wenn die Menschen wenigstens lernfähig wären, aber die - Verzeihung - Wählerverarschung funktioniert immer wieder aufs Neue. Aktuelles Beispiel: "Der Deutsche Bauernverband (DBV) zeigt sich enttäuscht über die stark unterdurchschnittliche Getreideernte 2024 und kritisiert scharf die aktuellen politischen Rahmenbedingungen. Bauernpräsident Joachim Rukwied macht den Klimawandel und praxisferne gesetzliche Vorgaben wie die restriktiven Düngeregelungen für die niedrigen Erträge verantwortlich." [3] Super, Bauernverbandspräsident Rukwied macht also den Klimawandel für die schlechte Ernte mitverantwortlich. Rukwied betont stets, er sei gar nicht gegen den Klimaschutz. Wenn es allerdings konkret wird... Wir erinnern uns: Tagelang legten die Bauern Anfang des Jahres mit ihren Treckern die halbe Republik lahm, um gegen die Maßnahmen der Ampelregierung zu protestieren. Arm in Arm mit CDU und CSU (Rukwied ist CDU-Mitglied) wurde heftig gegen Umweltauflagen im Allgemeinen und gegen die Grünen im Besonderen ausgeteilt, gerade mit Blick auf die Europawahl (Agrarpolitik findet hauptsächlich in Brüssel statt). Und das mit Erfolg: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach den protestierenden Bauern, die geplanten Maßnahmen zum Erhalt der Artenvielfalt zumindest teilweise wieder zurückzunehmen, andernfalls fürchtete sie nämlich um ihre Wiederwahl. Ein Großteil der Umweltstandards der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) wurde deshalb gelockert. In vorderster Front beim Bauernprotest: Joachim Rukwied. Ja, genau der gleiche Joachim Rukwied, der sich jetzt über die Auswirkungen des Klimawandels beklagt. Dabei ist die Landwirtschaft bei den Klimagasen Methan (CH4) und Lachgas (N2O) mit Abstand der größte Emittent. Und die intensive landwirtschaftliche Nutzung des Bodens ist ein Hauptgrund für den Rückgang der Artenvielfalt. Jeder, der den demonstrierenden Bauern Beifall geklatscht und bei der Europawahl die Union gewählt hat, müsste sich jetzt veräppelt vorkommen. Erst gegen Umweltschutzmaßnahmen protestieren und sich anschließend über Ernteausfälle aufgrund des Klimawandels beklagen - das passt nicht zusammen. Eigentlich ist es ganz einfach, man muss bloß wie beim Umtauschkurs eins und eins zusammenzählen. Genauso wie damals die Folgen für die Wirtschaft der ehemaligen DDR absehbar waren, liegen heute die Folgen der unzureichenden Klimapolitik klar auf der Hand. Und das eine ist ebenso wenig vergnügungssteuerpflichtig wie das andere. Aber auch das ist eine Wahrheit, die viele nicht hören wollen. Wenn man den Zustand der Umwelt zum Maßstab nimmt, hätte man eigentlich den Klimaklebern Beifall klatschen müssen, stattdessen waren sie allzu oft den Aggressionen der Autofahrer ausgeliefert. Vom Versuch, sie als "kriminelle Vereinigung" zu diskreditieren, ganz zu schweigen. In ein paar Jahrzehnten wird man es vermutlich ganz anders beurteilen. Wie bei Oskar Lafontaine wird man rückblickend vielleicht sagen: Sie hatten zwar recht, aber die anderen haben Wahlen gewonnen. Nur hilft uns das dann auch nicht weiter. Weder uns noch der Umwelt, die in ein paar Jahrzehnten wahrscheinlich noch viel schlimmer aussieht als heute. Es ist wirklich zum Mäusemelken. ----------
[1]
Berliner Zeitung vom 01.07.2000
[2]
Statista, Bruttoinlandsprodukt (BIP)
je Einwohner nach Bundesländern im Jahr 2023
[3] Westfälisch-Lippischer
Landwirtschaftsverband vom 22.08.2024
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