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01. September 2024, von Michael Schöfer
Die Atomkraft-Ideologie feiert ein Comeback


Keiner will ein Atomkraftwerk direkt vor seiner Haustür stehen sehen. Und selbst die glühendsten Atomkraftbefürworter meiden das Wort "Endlager" wie der Teufel das Weihwasser. Beim Atommüll herrscht bekanntlich das Sankt-Florian-Prinzip: "Heiliger Sankt Florian, verschon’ mein Haus, zünd’ and’re an!" Markus Söder will in Bayern partout kein Endlager haben, stattdessen befürwortet er eins im niedersächsischen Gorleben. Super! In Gorleben sieht man das wahrscheinlich genau umgekehrt. Die Inkonsequenz der Atomkraftbefürworter amüsiert immer wieder aufs Neue.

Ursula von der Leyen, die bei der Europawahl auf keinem einzigen Wahlzettel kandidierte, sich aber dennoch großspurig "Spitzenkandidatin" nannte, will die Atomkraft in Europa ausbauen. Das bekräftigte sie soeben auf einer Konferenz in Prag. Schon im Mai vorigen Jahres kündigten die 16 Mitglieder der "Nuklearallianz" [1] an, die Produktionskapazität der Atomkraft bis zum Jahr 2050 auf 150 Gigawatt zu steigern. Das wäre gemessen an der heute installierten Produktionskapazität eine Erhöhung um 50 Prozent. Neben dem Weiterbetrieb der existierenden Kernkraftwerke bedeutet das den Bau von 30 bis 45 neuen großen Reaktoren. Außerdem will man kleine modulare Reaktoren (Small Modular Reactors) entwickeln. [2]

Die SMR sind ja bei denjenigen, die auf eine Renaissance der Atomkraft setzen, die große Hoffnung. Wobei man wissen sollte, worauf man sich mit ihnen einlässt. "Um weltweit dieselbe elektrische Leistung zu erzeugen wie mit heutigen neuen Atomkraftwerken wäre eine um den Faktor 3-1000 größere Anzahl an Anlagen erforderlich. Anstelle von heute circa 400 Reaktoren mit großer Leistung würde dies also den Bau von vielen tausend bis zehntausend SMR-Anlagen bedeuten", schreibt das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung. Und ebenfalls nicht unwichtig: "Durch die geringe elektrische Leistung sind bei SMR die Baukosten relativ betrachtet höher als bei großen Atomkraftwerken. Eine Produktionskostenrechnung unter Berücksichtigung von Skalen-, Massen- und Lerneffekten aus der Atomindustrie legt nahe, dass im Mittel dreitausend SMR produziert werden müssten bevor sich der Einstieg in die SMR-Produktion lohnen würde." [3] So gesehen bekommt mit den Small Modular Reactors vielleicht tatsächlich bald jeder ein Atomkraftwerk direkt vor seine Haustür hingestellt. Woher obendrein das qualifizierte Personal für die tausend bis zehntausend SMR-Anlagen kommen soll, steht in den Sternen. So einfach zu bedienen wie eine Kaffeemaschine sind SMR jedenfalls nicht.

Polen hat bereits angekündigt, die Atomkraft ausbauen zu wollen. Das Problem: "Die Kosten explodieren, der Bau verzögert sich. Der erste Reaktor soll nun 2040 ans Netz gehen, sieben Jahre später als geplant. Woher das Geld kommen soll, bleibt die ungelöste Frage, vor der Osteuropa steht. (…) Nach Berechnungen des Nachrichtendienstes Bloomberg wollen osteuropäische Länder mindestens ein Dutzend neue Atomreaktoren bauen, die insgesamt rund 130 Milliarden Euro kosten könnten." [4] Ohne einen staatlich garantierten Strompreis dürfte die Finanzierung schwer werden, rein privatwirtschaftlich ist das Ganze mit hohen finanziellen Risiken verbunden.

Allerdings gab es bei Atomkraftbefürwortern immer zwei scheinbar überzeugende Argumente. Erstens: Der Betrieb ist sicher. Was man freilich nach etlichen Unfällen (u.a. Tschernobyl, Fukushima) und einer Fülle von Betriebsstörungen (z.B. Ausfall von 32 der insgesamt 56 französischen Reaktoren im Jahr 2022) als widerlegt betrachten kann. Zweitens: Atomstrom ist billig. Ohne staatliche Subventionierung (= Zuschüsse des Steuerzahlers) stimmt das aber genauso wenig. Rechnet man sämtliche Kosten zusammen, von den Entwicklungs- und Baukosten über die Versicherungsprämien für den Regelbetrieb bis zur Endlagerung des hochradioaktiven Abfalls, ist die Atomkraft vielmehr ziemlich kostspielig. Privatwirtschaftlich rechnet sich das kaum. Die Bevölkerung zahlt also entweder in Form von staatlichen Zuschüssen oder in Form eines höheren Garantiestrompreises. Vermutlich sogar beides zugleich. Wohl bekomms!

Dabei haben wir einen großen Reaktor, der uns die Energie kostenlos frei Haus liefert. Und das seit 4,57 Milliarden Jahren: die Sonne. Die Summen, die man in die letztlich unrentable Renaissance der Atomkraft steckt, wären in Wind-, Solar- und Wasserstoffenergie viel besser investiert. Sicherer und zweifellos auch wesentlich effizienter. "Wenn Du merkst, dass Du ein totes Pferd reitest, steig ab!" Irritierend ist, dass es von der Leyen anscheinend immer noch nicht gemerkt hat.

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[1] Belgien, Bulgarien, Kroatien, Tschechische Republik, Estland, Finnland, Frankreich, Ungarn, Niederlande, Polen, Rumänien, Slowenien, Slowakei, Schweden, Vereinigtes Königreich als Gast und Italien als Beobachter
[2] Euractiv vom 17.05.2023
[3] Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, Small Modular Reactors - Was ist von den neuen Reaktorkonzepten zu erwarten?
[4] Focus-Online vom 27.08.2024