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02. September 2024, von Michael Schöfer
Immer diese Gockel mit ihrem Imponiergehabe


Ach, immer diese Gockel mit ihrem sinnlosen Imponiergehabe. Nein, ich rede jetzt nicht über Emmanuel Macron, der zur Unzeit die Nationalversammlung aufgelöst hat und sich danach wie ein kleiner Louis XIV aufspielt: L’État, c’est moi (Der Staat, das bin ich!). Und wehe, wenn sich die stärkste Parlamentsfraktion erdreistet, Seiner Majestät eine Premierministerin vorzuschlagen. Reden wir also ausnahmsweise nicht vom französischen Sonnenkönig, sondern zur Abwechslung einmal vom sächsischen Gockel.

Man kann zum BSW im Allgemeinen und zu dessen Chefin Sahra Wagenknecht im Besonderen stehen wie man will, aber in einem hat Wagenknecht vollkommen recht: "Wer mit uns koalieren möchte, muss auch mit mir sprechen." [1] So ist das nämlich üblich. Gockel Michael Kretschmer hingegen meint mit der ihm wesenseigenen Sensibilität: "Wir koalieren nicht mit Frau Wagenknecht, sondern mit Menschen, die in den sächsischen Landtag gewählt worden sind." [2] Dabei hat die CDU nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen eigentlich überhaupt keinen Grund, sich derart aufzuplustern. Aber die üblichen Rituale sind mittlerweile offenbar fester Bestandteil der Politiker-DNA, die bekommt man so schnell nicht wieder los. Dabei würde Michael Kretschmer ein bisschen mehr Bescheidenheit durchaus gut tun.

Er hat auch in der Sache absolut unrecht, denn Koalitionen werden nämlich nicht zwischen Abgeordneten geschlossen, sondern zwischen Parteien. Der Koalitionsvertrag der Ampelregierung wurde 2021 u.a. vom damaligen Co-Parteivorsitzenden Norbert Walter-Borjans (SPD) unterzeichnet. Bundestagsabgeordneter war er allerdings nicht, weil er 2020 auf eine Kandidatur verzichtete. Den Koalitionsvertrag der GroKo von 2018 hat auch Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) mitunterzeichnet, doch sie war damals nur Generalsekretärin ihrer Partei und besaß ebenfalls kein Bundestagsmandat. Hätten die Verhandlungspartner à la Kretschmer gockelhaft getönt, mit denen reden wir gar nicht, sondern nur mit Menschen, die in den Deutschen Bundestag gewählt worden sind, wären die Koalitionsverhandlungen wahrscheinlich schon im Vorfeld krachend gescheitert.

Vom höchst fragwürdigen Charakterzug einmal ganz abgesehen: Arroganz sollte man sich nur dann leisten, wenn man sie sich wirklich leisten kann. Doch wer sich die Sitzverteilung im neuen sächsischen Landtag ansieht, kommt unschwer an der Erkenntnis vorbei, dass Michael Kretschmer den BSW unbedingt braucht, um eine stabile Regierung zu bilden. Ohne den BSW hat die CDU keine Mehrheit, es würde allenfalls für eine Minderheitsregierung reichen. Von daher wäre etwas Zurückhaltung, viel Fingerspitzengefühl und die Kunst der Diplomatie gefragt gewesen. Aber der Drang, den Gockel herauszuhängen, war offenbar stärker. Mein Gott, im passenden Augenblick ist selbst CSU-Chef Markus Söder zu diplomatischem Verhalten imstande. Und zwar dann, wenn er etwas nur auf diesem für ihn völlig untypischen Weg bekommen kann.

Wenn aufgeplusterte Gockel in einflussreiche Positionen gelangen, braucht man sich wirklich nicht zu wundern, dass die politische Landschaft so aussieht, wie sie derzeit nun mal unstreitig aussieht: Immer konsequent dem Abgrund entgegen. Getoppt eigentlich nur von SPD-Chefin Saskia Esken, die endgültig bewiesen hat, dass sie definitiv in einer anderen Welt lebt: "Olaf Scholz ist unser starker Bundeskanzler." Wohlgemerkt, bei einstelligen Wahlergebnissen. Das kann man nur als totalen Realitätsverlust interpretieren. Willy Brandt dreht sich bestimmt im Grab herum. Doch zurück zu Kretschmer: Da er es anscheinend für notwendig hält, einen unverzichtbaren Koalitionspartner öffentlich zu düpieren, wird er wohl auch auf die Belange der Wählerinnen und Wähler wenig Rücksicht nehmen. Strebt Kretschmer insgeheim eine Zusammenarbeit mit der AfD an, indem er das BSW gezielt vor den Kopf stößt? Motto: Wir wurden ja durch das BSW buchstäblich dazu gezwungen. Hoffentlich nicht, denn das wäre eine perfide Wählertäuschung. Aber heutzutage ist leider nichts mehr auszuschließen.

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[1] mdr vom 02.09.2024
[2] Zeit-Online vom 02.09.2024
[3] Zeit-Online vom 02.09.2024

Nachtrag (10.09.2024):
Gang nach Canossa… äh… Wagenknecht. Michael Kretschmer hat sich in Berlin mit der BSW-Vorsitzenden Sahra Wagenknecht getroffen. Also doch. Und "Ziel sei es gewesen, die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auszuloten", meldet tagesschau.de. [4] War ja eigentlich von vornherein klar, dass sich der sächsische CDU-Vorsitzende nicht heraussuchen kann, welche Personen auf der Seite eines möglichen Koalitionspartners verhandeln.

[4] tagesschau.de vom 09.09.2024