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06. September 2024, von Michael Schöfer
Wir genießen das Hinterwäldler-Image zu Recht


2024 wird wahrscheinlich das wärmste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. In der gesamten zurückliegenden 12-Monats-Periode war es durchgehend mindestens 1,5 Grad wärmer als in der vorindustriellen Zeit. Momentan (Stand August 2024) liegen wir 1,64 Grad über dem Referenzzeitraum von 1850 bis 1900. [1] Was bei den einen Abwehrreflexe auslöst (bitte kommen Sie mir nicht schon wieder damit!), bestätigt andere in ihrem tiefen Pessimismus (haben wir es euch nicht schon immer gesagt?). Beides ist verständlich, dennoch werden das Klima und die aus der Erderwärmung resultierenden Folgen dadurch um keinen Deut besser oder schlechter. Wir bewegen uns nämlich auf rein physikalischem Gebiet, im vorliegenden Fall ist das die Absorption von klimarelevanten Molekülen (Kohlendioxid, Methan, Lachgas etc.). Je höher deren Anteil in der Erdatmosphäre, desto größer ist dort die Wärmeenergie. Was einzig und allein hilft, ist die drastische Reduzierung der Emissionen. Eigentlich ganz einfach.


(Grafik aus der Süddeutsche Zeitung)

Eigentlich, aber selbst überzeugende Argumente haben es schwer. Sich mit ihrer Hilfe durchzusetzen und eine Änderung herbeizuführen, war allerdings noch nie einfach. Zu dieser Erkenntnis verhilft uns ein Blick in die Geschichte. Die "Cholera (...) ist eine schwere bakterielle Infektionskrankheit vorwiegend des Dünndarms, die durch das Bakterium Vibrio cholerae verursacht wird. Die Infektion erfolgt zumeist über verunreinigtes Trinkwasser oder infizierte Nahrung." [2] Der Historiker Jürgen Osterhammel schreibt dazu in seinem Buch Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts: "Der Wert technischer Wasserreinigung wurde besonders deutlich, nachdem der englische Arzt Dr. John Snow 1849 festgestellt hatte, dass die Cholera nicht durch die Luft oder durch direkte menschliche Berührung, sondern durch Wasser übertragen wird. Es dauerte noch mehr als fünfzehn Jahre, bis Snows Erkenntnis allgemein akzeptiert wurde." (Seite 261)

Es gab große Widerstände, etwa durch Privatunternehmen, in deren Händen sich die Londoner Wasserversorgung befand. Partikularinteressen stehen dem Gemeinwohl oft entgegen. Snows Theorie wurde aber auch durch die damaligen Wissenschaftler und Ärzte nicht anerkannt, weshalb es in London noch 1866 mehrere Tausend Cholera-Tote gab. In München wurde die von Snow entdeckte Ursache der Cholera lange geleugnet, die Stadt begann deshalb erst 1881 mit dem Bau neuer Wasserversorgungsanlagen. Zwangsläufige Folge: Auch in der dritten Choleraepidemie (1872/73) starben dort zahlreichen Menschen. Völlig unnötig, wie wir heute wissen.

Bei den Pocken war es ähnlich: Edward Jenner erkannte 1789 die schützende Wirkung der Kuhpocken und legte eine sichere Prophylaxe vor: die Pockenschutzimpfung. Uns ist das ja von der Corona-Pandemie her sattsam bekannt: Die Pockenschutzimpfung war keineswegs unumstritten, es tobten "öffentliche Debatten um die Vor- und Nachteile von Impfungen". Zeitweise setzten sich sogar "libertäre, jeden staatlichen Zwang ablehnende Impfgegner" durch. (Osterhammel, Seite 272) Im 20. Jahrhundert töteten die Pocken daher noch mehr als 300 Millionen Menschen. Im Nachhinein greift man sich buchstäblich an den Kopf, denn seit 1979 gelten die Pocken offiziell als ausgerottet. Ergebnis der staatlich verordneten Pockenschutzimpfungen, die auf Beschluss der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ab 1967 weltweit Pflicht wurden. Dazu waren 2,4 Milliarden Impfdosen notwendig, die 300 Millionen Dollar kosteten. Aber der Aufwand hat sich unzweifelhaft gelohnt, der Erfolg der von Edward Jenner vorgeschlagenen Vorbeugungsmaßnahme war spektakulär. Die Impfgegner des 19. Jahrhunderts stehen heute ziemlich belämmert da.

Zurück zur Klimakatastrophe: Warum fällt es uns so schwer, die Erkenntnisse der Wissenschaftler zu akzeptieren und deren Empfehlungen zu folgen? Warum sind Umweltparteien - nicht nur bei uns in Deutschland - in der Defensive, obgleich die negativen Folgen des menschengemachten Klimawandels längst offenkundig sind (Häufigkeit von Wetterextremen wie Starkregen, Dürren mit extremen Wassermangel und schier unerträgliche Hitzeperioden)? Warum finden Parteien beim Wähler Anklang, die den Klimawandel leugnen oder den traditionellen fossilen Techniken verhaftet sind? Warum wird Erreichtes vielerorts rückabgewickelt, z.B. die Auflagen für die Landwirtschaft? Knappe Antwort: Weil wir nicht bereit sind, aus der Geschichte zu lernen. Natürlich auch, weil die Regierenden vieles dilettantisch umsetzen.

Stehen wir deshalb bei den in 150 Jahren Lebenden rückblickend nicht ebenfalls wie die - Verzeihung - Deppen da, weil wir die Zeichen der Zeit, analog zur damaligen Cholera- und Pockenbekämpfung, genauso wenig erkennen wollen? So wie es derzeit aussieht, bekommen wir von den Generationen nach uns ein Hinterwäldler-Image verpasst. Und das offen gestanden nicht einmal zu Unrecht. Wir geben uns jedenfalls alle erdenkliche Mühe, es uns redlich zu verdienen.

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[1] Süddeutsche vom 06.09.2024
[2] Wikipedia, Cholera