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25. Oktober 2024, von Michael Schöfer
Ojemine…


...uns geht’s ja so schlecht, vor allem der Wirtschaft. Der Wohlstand ist in Gefahr, weil der Standort Deutschland abzuschmieren droht. Bitte, bitte, lieber Staat, hilf! So oder zumindest so ähnlich erklingt es derzeit landauf, landab. Die Lobbygruppen legen immer die gleiche Platte auf. Aber da die Ampelregierung wahrlich keinen guten Eindruck macht, wird Deutschland inzwischen von vielen als "kranker Mann" Europas bezeichnet. Doch stimmt das, ist die Lage wirklich so schlimm? Drohen wir demnächst alle in Sack und Asche zu gehen? Mitnichten, wie wir gleich sehen werden.

Deutschland ist nach wie vor ein exportstarkes Land, das schon von jeher auf ausländischen Märkten viel Geld verdient hat. Das letzte Außenhandelsdefizit fuhren wir im Jahr 1951 ein, das ist jetzt 73 Jahre her. Seitdem ist unsere Außenhandelsbilanz stets positiv, und daran hat sich - ungeachtet des Gejammers - bis dato überhaupt nichts geändert. Im vergangenen Jahr betrug unser Außenhandelsüberschuss 224 Mrd. Euro, das ist genauso viel wie im Vorkrisenjahr 2019 (also vor der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg). [1] In den ersten acht Monaten des laufenden Jahres waren es 178,2 Mrd. Euro, das ist gegenüber dem Vergleichszeitraum 2023 ein Plus von satten 23,9 Prozent, denn von Januar bis August 2023 waren es "bloß" 143,9 Mrd. [2] Crisis? What Crisis? Deutschland ist in der Tat ein Land der Jammerlappen. Was mich besonders interessiert ist, bei wem die vielen im Export verdienten Milliarden hängengeblieben sind. Dazu später mehr.

Wir haben aktuell zweifellos eine Wachstumsschwäche, das Bruttoinlandsprodukt ist 2023 um 0,3 Prozent zurückgegangen. Und die Aussichten für 2024 sind mit einem prognostizierten Minus von 0,2 Prozent nicht viel besser. Das hat unterschiedliche Ursachen: Der Strukturwandel in der deutschen Wirtschaft, der stärkere Wettbewerb mit chinesischen Unternehmen, die gestiegenen Energiekosten, das nach wie vor hohe Zinsniveau, die große wirtschafts- und geopolitische Unsicherheit. Sagen zumindest die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in ihrem Herbstgutachten. Diese Gemengelage habe die Investitionen der Unternehmen und die Anschaffungsneigung der privaten Haushalte belastet. "Die privaten Haushalte legen ihr Einkommen vermehrt auf die hohe Kante, statt Geld für neue Wohnbauten oder Konsumgüter auszugeben." [3]

Doch man muss schon genauer hinschauen, denn die Vermögensungleichheit ist in Deutschland im internationalen Vergleich recht hoch. Die oberen 10 Prozent hatten 2023 am Nettogesamtvermögen einen Anteil von 61,2 Prozent, während die unteren 50 Prozent auf bloß 2,3 Prozent kamen. [4] Das sagen keine linken Systemveränderer, sondern sagt die jedem Radikalismus abholde Deutsche Bundesbank. Sie stellt anhand der Daten ganz nüchtern fest, dass der Anteil der unteren Hälfte der Bevölkerung am Geldvermögen gering und beim Immobilienbesitz noch viel geringer ist. [5] Das hat konkrete Folgen.

Die Mieten steigen zu stark und die Mietbelastungsquote (Anteil der Bruttokaltmiete am Haushaltsnettoeinkommen) ist zu hoch. In Mannheim sind die Mieten laut dem aktuellen Mietspiegel 2025/2026 gegenüber dem Mietspiegel 2023/2024 um 8,4 Prozent gestiegen. [6] Die Mietbelastungsquote liegt im Schnitt bei 30,1 Prozent. Tendenz steigend, weil die Einkommen da kaum Schritt halten (Mannheim hatte 2021 im Landesvergleich das niedrigste verfügbare Pro-Kopf-Einkommen). Natürlich muss man auch hier differenzieren. Bezogen auf ganz Baden-Württemberg gilt: "Haushalte mit einem monatlichen Nettoeinkommen von unter 1.500 Euro müssen mit einer durchschnittlichen Mietbelastungsquote zwischen 45,4 und 49,5 % bei jeder Gemeindegröße annähernd die Hälfte ihres Einkommens für die Miete aufbringen. Mieterhaushalte mit einem monatlichen Einkommen von 4.000 Euro und mehr wenden hingegen durchschnittlich lediglich 15,1 bis 17,4 % ihres Einkommens für die Miete auf." [7]

Bundesweit ist die Situation nicht anders: 3,1 Millionen Haushalte haben eine Mietbelastungsquote von 40 Prozent oder mehr. "Rund 1,5 Millionen Mieterhaushalte wiesen 2022 eine Mietbelastung von 50 % oder mehr auf. Etwa 1,6 Millionen weitere Mieterhaushalte wendeten für die Bruttokaltmiete zwischen 40 % und 50 % ihres Haushaltseinkommens auf." [8] Es findet folglich eine massive Umverteilung von unten nach oben statt. Vermögende besitzen (siehe Monatsbericht der Deutschen Bundesbank) oft auch Wohnungen, die sie möglichst renditestark vermieten. Die, die wenig Geld haben, müssen im Gegensatz dazu einen beträchtlichen Teil ihres Haushaltseinkommens an den Vermieter weiterreichen. Doch die erhöhen wiederum (siehe Herbstprognose der Wirtschaftsforschungsinstitute) bloß ihre Sparquote anstatt zu konsumieren. Die einen würden gern konsumieren, können es aber nicht. Und die, die es könnten, tun es nicht. Will man also den Konsum und damit das Bruttoinlandsprodukt ankurbeln, wäre es von der ökonomischen Logik her klug, die Mietbelastungsquote der Mieter zu senken.

Aber die Politik weigert sich seit langem, die steigenden Mieten wirksam zu bekämpfen. Übrigens vollkommen egal, ob Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot, Rot-Grün oder wie aktuell Rot-Grün-Gelb regiert. Die mangelnde Verteilungsgerechtigkeit spielt anscheinend bei keiner Regierungskoalition eine bedeutende Rolle. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) ist das beste Beispiel: Anstatt dafür zu sorgen, dass Vermögende wie alle anderen ordentlich ihre Steuern zahlen, würde er lieber bei den Sozialausgaben sparen. Die Steuersparmodelle der Vermögenden abzuschaffen, kommt für ihn offenbar nicht in Betracht. Dabei wäre bei denen viel zu holen. Welch ein Irrsinn: Kitas und Pflege klagen unter Personalnot, während die Anzahl der Millionäre schier unaufhaltsam wächst. Dem Global Wealth Report 2024 der Schweizer Großbank UBS zufolge gab es hierzulande 2023 mehr Millionäre (2,82 Mio.) [9] als Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen (702.200) [10], Pflegeheimen (814.042) und ambulanten Pflegediensten (442.860) [11] zusammen (1,96 Mio.). Wer beklagt sich über die zu hohe finanzielle Belastung durch stark steigende Mieten? Die Millionäre jedenfalls nicht. Im Gegenteil, je höher die Miete, desto höher die Rendite. Und jetzt raten Sie mal, für wen in Deutschland hauptsächlich Politik gemacht wird.

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[1] Statistisches Bundesamt, Gesamtentwicklung des deutschen Außenhandels 1950 bis 2023, PDF-Datei mit 87 KB
[2] Statistisches Bundesamt, Erste Detaildaten zum Außenhandel, Excel-Datei mit 109 KB
[3] tagesschau.de vom 26.09.2024
[4] Wirtschaftswoche vom 18.04.2024
[5] Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Juli 2022, Seite 25, PDF-Datei mit 507 KB
[6] RNF vom 24.10.2024
[7] Statistisches Landesamt Baden-Württemberg, Pressemitteilung 99/2023 vom 28. April 2023
[8] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 129 vom 31. März 2023
[9] Business Insider vom 11.07.2024
[10] Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. N004 vom 24. Januar 2024
[11] Statistisches Bundesamt, Personal in Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten, Stand 2021