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| Archiv | Impressum 23. Januar 2025, von Michael Schöfer Schuldig bei Anklage Man soll nicht so tun, als gäbe es keine sexuelle Belästigung. Natürlich gibt es sie und sie ist offenbar gar nicht so selten. Dennoch muss man immer einkalkulieren, dass entsprechende Vorwürfe auch falsch sein könnten, obwohl Falschbeschuldigungen nach Aussagen von Experten wahrscheinlich in der Minderheit sind. Trotzdem kommen sie eben doch vor. Genaue Zahlen existieren allerdings keine. Der Schauspieler Kevin Spacey hatte heftig darunter zu leiden. Spacey wurde 2017 beschuldigt, gut drei Jahrzehnte zuvor in seinem New Yorker Apartment einen 14-Jährigen sexuell belästigt zu haben. Spacey war damals 26 Jahre alt. Der Jugendliche "sagte aus, dass er 1986 bei einer Party im Apartment von Spacey in Manhattan zu Gast gewesen sei. Er habe sich ins Schlafzimmer gesetzt und Fernsehen geschaut. Nach einer Weile sei Spacey erschienen, offenbar angetrunken, mit glasigen Augen. Spacey habe ihn hochgehoben, wie man eine Braut hochhebe, um sie über die Schwelle des neuen Heims zu tragen, und ihn aufs Bett gelegt. Anschließend habe er sich halb neben und halb auf ihn gelegt und seine Körpermitte gegen seine Hüfte gedrückt." [1] Nachweislich eine Falschaussage, denn Spaceys Wohnung war ein Ein-Zimmer-Appartement, es gab dort überhaupt kein Schlafzimmer. Er wurde daher freigesprochen, wie übrigens in allen folgenden Prozessen ebenfalls. Juristisch ist der bis zu diesem Zeitpunkt höchst erfolgreiche Schauspieler ein unbescholtener Bürger. Dessen ungeachtet zerstörten die Falschbeschuldigungen seine Schauspielerkarriere. Spacey wurde aus der beliebten Politik-Serie "House of Cards" geworfen und musste der Produktionsfirma sogar rund 31 Millionen Dollar Entschädigung zahlen. Es kam zu keiner strafrechtlichen Verurteilung, aber seine berufliche Existenz war trotzdem vernichtet, doch das hat in der Hochzeit der MeToo-Debatte nur die wenigsten interessiert. Das Motto lautete (nicht nur in seinem Fall): "Schuldig bei Anklage." Wo ist bloß die gute alte Unschuldsvermutung geblieben? Konsequenzen sollten erst gezogen werden, wenn die Schuld bewiesen ist. Genau das dürfte auch Stefan Gelbhaar denken, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen aus Berlin. Gelbhaar wurde im November 2024 von der Wahlkreisversammlung seiner Partei mit einem Ergebnis von 98 Prozent als Direktkandidat des Bundestagswahlkreises Berlin-Pankow aufgestellt, den er bereits 2021 gewonnen hatte. Doch kurz danach brach buchstäblich die Welt über ihm zusammen. Gegen Gelbhaar wurden Belästigungsvorwürfe erhoben, für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) anschließend Anlass zu einer ausführlichen Berichterstattung. Der Bundestagsabgeordnete hat den Vorwürfen stets widersprochen, aber unter dem medialen Druck auf den aussichtsreichen Landeslistenplatz zwei verzichtet, für den dann Andreas Audretsch erfolgreich kandidierte. Audretsch arbeitete früher u.a. für den RBB und ist heute Wahlkampfmanager von Robert Habeck, verwahrt sich aber gegen alle Intrigenvorwürfe. Der Vorstand des Kreisverbands Pankow beantragte zudem eine neue Wahlkreisversammlung, auf der Julia Schneider zur Direktkandidatin für die vorgezogene Bundestagswahl am 23.02.2025 nominiert wurde. Stefan Gelbhaar, der im November eigentlich schon nominiert war, stand vor den Trümmern seiner politischen Karriere. Die Bundestagswahl 2025 findet definitiv ohne ihn statt, der Jurist wird sich bald einen neuen Job suchen müssen. Das Ganze ist ebenso ein RBB-Skandal wie ein Grünen-Skandal. Beide haben kläglich versagt und jeweils gegen Standards verstoßen. Zwar ließ sich der RBB die Aussagen der angeblich belästigten Frauen mit der Abgabe von eidesstattlichen Versicherungen bestätigen, musste dann aber heftig zurückrudern, weil die Identität der mutmaßlichen Hauptbetroffenen offenbar gefälscht war. Außerdem fehlte auf der eidesstattlichen Versicherung das Geburtsdatum, und sie wurde bloß elektronisch übersandt. Kein Gericht nimmt so etwas ernst. Der RBB hatte obendrein keinen persönlichen Kontakt zur mutmaßlichen Hauptbetroffenen, sondern kommunizierte lediglich über Telefon und E-Mail mit ihr. Die Journalisten haben sich anscheinend nicht einmal den Ausweis der Frau zeigen lassen - ein haarsträubendes Vorgehen und ein grober Verstoß gegen die journalistische Sorgfaltspflicht. Und das bei einem solch schwerwiegenden Vorwurf mit leicht vorhersehbaren Folgen. Qualitätsjournalismus geht anders. Der RBB will durch Fakten-Checks glänzen, macht aber bei seiner Arbeit schlimmere Fehler als die meisten Volontäre. Und wo haben bitteschön die Juristen des Senders ihren Abschluss gemacht? Wie dem auch sei, jedenfalls trat dann plötzlich die Berliner Bezirkspolitikerin Shirin Kreße von ihren Ämtern zurück und aus der Partei aus. Sie soll es gewesen sein, die Gelbhaar beim RBB unter falschen Personalien beschuldigte. Der "Tagesspiegel" schreibt: "Der RBB geht inzwischen selbst davon aus, dass die Bezirkspolitikerin die eidesstattliche Versicherung gefälscht hatte. In Telefonaten hätte 'Anne K.' den angeblichen Übergriff von Gelbhaar geschildert, persönlich getroffen hatte die Redaktion die Frau nicht, verbreitete aber den Vorwurf, Gelbhaar habe sie zu einem Kuss gezwungen. Zwei andere schwere Vorwürfe beruhten auf anonymen E-Mails, die dem RBB vorliegen und offenbar auch der Ombudsstelle. Auch diese E-Mails sollen von Kreße stammen." [2] Der RBB hat sich auf ganz dünnes Eis begeben und ist dabei fürchterlich eingebrochen. Gelbhaar konnte den Hauptvorwurf, die Verabreichung von KO-Tropfen nach einer Abendveranstaltung, glaubhaft widerlegen. [3] Vor Gericht fielen dann die restlichen eidesstattlichen Versicherungen, die der RBB in Händen hielt, in sich zusammen. "Das Landgericht Hamburg hat dem Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) untersagt, konkrete Vorwürfe einer Frau gegenüber dem Berliner Grünen-Politiker Stefan Gelbhaar weiter zu verbreiten. Die Voraussetzungen für eine zulässige Verdachtsberichterstattung hätten nicht vorgelegen. Für den Vorwurf, Gelbhaar habe 'systematisch Frauen innerhalb der Partei belästigt', fehle es an einer Grundlage. (…) Für ein systematisches Vorgehen Gelbhaars fehle es an hinreichenden Anhaltspunkten. Die Vorwürfe der Frau allein würden keine ausreichende Grundlage für die Verdachtsberichterstattung, wie der RBB sie veröffentlicht hatte, darstellen, heißt es in dem Beschluss. Und auch weitere vom RBB vorgelegte eidesstattlichen Versicherungen anderer Frauen könnten den Vorwurf des systematischen Vorgehens 'mit Blick auf die völlig inhaltsleeren Darlegungen' nicht tragen. In den Versicherungen war von 'unangenehmen Erfahrungen' mit Gelbhaar die Rede, die aber nicht weiter konkretisiert wurden." [4] Das ist eine schallende Ohrfeige für den RBB. Nach eigenen Angaben wurde Gelbhaar von der Ombudsstelle des Grünen Landesverbandes zwar darüber informiert, dass gegen ihn Vorwürfe erhoben wurden, Details hat man ihm jedoch nicht mitgeteilt. Insofern bekam er auch kein rechtliches Gehör, weil man nur zu etwas Stellung nehmen kann, das konkret benannt wird. Was die Berliner Grünen freilich nicht davon abhielt, Gelbhaar vorzuverurteilen und von ihm abzurücken. Wohlgemerkt: Ohne jeden stichhaltigen Beweis seiner Schuld. Wie kann das passieren? Indem Menschen vorschnell urteilen, bevor die Fakten auf dem Tisch liegen. Und indem nicht sauber ermittelt wird. Die Grünen haben der offenbar nicht existenten "Anne K." geglaubt und Gelbhaar geschasst. Wenn das die Auffassung der Grünen von Rechtsstaatlichkeit ist, brauchen sie sich über verlorene Reputation nicht zu wundern. Was für ein toxischer Landesverband die Berliner Grünen sind, hat schon 2021 der peinliche Vorgang um die Äußerung von Bettina Jarasch gezeigt. Die Spitzenkandidatin sagte öffentlich, dass sie als Kind gerne Indianerhäuptling werden wollte. Das seien diskriminierende Äußerungen warfen ihr manche Grüne vor, woraufhin sie sich für ihre "unreflektierten Kindheitserinnerungen" entschuldigte. [5] Den Vogel in der Affäre Gelbhaar schoss aber Jette Nietzard vom Jugendverband der Grünen ab. "'Die Unschuldsvermutung gilt immer vor Gericht. Aber wir sind eine Organisation, und wir sind kein Gericht.' Sie selbst sei froh, Mitglied einer feministischen Partei zu sein, so Nietzard weiter. In einer feministischen Partei zu sein, bedeute jedoch auch, 'dass Betroffenen geglaubt wird'." [6] § 14 Abs. 4 Parteiengesetz schreibt vor: "Für die Tätigkeit des Schiedsgerichts ist eine Schiedsgerichtsordnung zu erlassen, die den Beteiligten rechtliches Gehör, ein gerechtes Verfahren und die Ablehnung eines Mitglieds des Schiedsgerichts wegen Befangenheit gewährleistet." Was ist unter einem "gerechten Verfahren" zu verstehen? Wohl kaum, dass man nur den mutmaßlichen Opfern glaubt, sondern im Rahmen der Unschuldsvermutung auch dem mutmaßlichen Täter. Das nennt man Objektivität, das Gegenteil von Voreingenommenheit. Es wäre die Aufgabe der Ombudsstelle gewesen, einer Unterorganisation des Landesschiedsgerichts, die Wahrheit herauszufinden. Hat sie aber nicht, denn sie war von vornherein parteiisch: "Die Perspektive der Betroffenen ist für die Mitglieder der Beschwerdekommission handlungsleitend", steht auf der Website der Berliner Grünen. Gerechtes Verfahren trotz ausdrücklicher Einseitigkeit? Im Übrigen hat sich die Aussage der offenbar nichtexistenten Anne K. mittlerweile als gefaked entpuppt. Für Jette Nietzard ist das aber anscheinend noch immer irrelevant, für sie gilt - siehe oben bei Kevin Spacey - "schuldig bei Anklage". Da kräuseln sich jedem Juristen die Nackenhaare. Angeblich halten mehrere Frauen an ihren Vorwürfen gegen Gelbhaar fest. Wie substantiiert die sind und ob die Frauen überhaupt existieren, erfährt die Öffentlichkeit nicht. Die Grünen handelten, bevor sie wussten, was tatsächlich passiert ist. Und das ist noch immer offen. Dabei wäre es ganz einfach gewesen: Die Sache gewissenhaft aufklären und dabei unvoreingenommen sein. Konsequenzen erst dann ziehen, wenn die Fakten feststehen. Dafür gibt es Regeln, die man von sachkundigen Personen ausarbeiten lässt, in Behörden beispielsweise Dienstvereinbarungen über die Vorgehensweise bei solchen Anschuldigungen. Wenn eine Ombudsstelle, die eigens dafür installiert ist, kein spezielles Regelwerk hat, ist sie nur zur Wahrung des schönen Scheins da und völlig nutzlos. Oder die Ombudsstelle agiert absolut dilettantisch und wendet das Regelwerk nicht an. Die Ombudsstelle hat im Fall Gelbhaar massive Fehler gemacht. Die Grünen wären auch moralisch verpflichtet gewesen, an der Unschuldsvermutung festzuhalten. Sie haben sich aber aus Parteiinteresse dagegen entschieden und dabei leichtfertig einen Abgeordneten geopfert. Auf den Opferschutz hätten sie gar nicht zu verzichten brauchen. In solchen Fällen muss man erst einmal die Vorwürfe konkretisieren und den vermeintlichen Opfern und dem vermeintlichen Täter getrennt voneinander die Gelegenheit geben, auszusagen bzw. zu detaillierten Vorwürfen Stellung zu nehmen. Das ist bei Gelbhaar unterblieben. Im Nahbereich, z.B. am Arbeitsplatz, ist natürlich eine schnelle Trennung notwendig, um ein mutmaßliches Opfer zu schützen. Im Fall von Gelbhaar hätte man aber zunächst an der bereits erfolgten Nominierung als Wahlkreiskandidat festhalten sollen. Alles andere hätte sich danach in Ruhe klären lassen. Im Grundsatzprogramm sagen die Grünen, dass für sie der Mensch im Mittelpunkt steht und sie für eine rechtsstaatliche Vorgehensweise eintreten. Im vorliegenden Fall stand anscheinend das Parteiinteresse im Mittelpunkt. Die Grünen stellten es über die Interessen und Rechte Gelbhaars. Das ging, wie wir jetzt wissen, gründlich schief, der Schaden für die Partei ist nun viel, viel größer. Dem Feminismus haben sie obendrein einen Bärendienst erwiesen, weil ihn viele mit einer Hexenjagd auf Männer anstatt der Herstellung von echter Gleichberechtigung in Verbindung bringen. Ein Debakel. Dass jetzt eine Kommission unter der Leitung von Anne Lütkes und Jerzy Montag die Vorwürfe klären soll, ist eine Nebelkerze, denn die Kommission kann mangels Ermittlungsrechten wenig zur Aufklärung beitragen. Zeugen sind z.B. nicht verpflichtet, vor der Kommission wahrheitsgetreu auszusagen, müssen dort nicht einmal erscheinen. Ob etwa die ausgetretene Bezirkspolitikerin vor der Kommission eine Aussage macht, ist sehr unwahrscheinlich, weil sie sich demnächst als Angeklagte vor einem ordentlichen Gericht wiederfinden könnte. Da wären Aussagen vor einem nicht dem Zeugnisverweigerungsrecht unterliegenden Gremium kontraproduktiv. Ihr Anwalt dürfte ihr sicherlich abraten. Und es steht ja nach wie vor eine gezielte Intrige gegen Gelbhaar im Raum. Vom mangelnden Vertrauen gegenüber einer so agierenden Partei ganz zu schweigen. Man kann nur hoffen, dass die Staatsanwaltschaft und ggf. das Strafgericht mehr Licht in die tatsächlichen Vorgänge bringen. Die Staatsanwaltschaft hat die Möglichkeit, bei der Bezirkspolitikerin eine Hausdurchsuchung zu beantragen, um Beweismittel sicherzustellen. Und schließlich muss man vor Gericht erscheinen, wenn man vorgeladen wird, Zeugen müssen dort die Wahrheit sagen, sonst machen sie sich strafbar. Die Affäre Gelbhaar wird uns also vermutlich noch länger begleiten. Zum Schluss möchte ich klarstellen: Mit geht es nicht darum, mich auf eine bestimmte Seite zu schlagen. Wenn jemand nachweislich etwas getan hat, muss er dafür geradestehen. Und in diesem unübersichtlichen Fall ist nach den bislang vorliegenden Erkenntnissen weder die Schuld noch die Unschuld hinreichend geklärt. Aber ich lege großen Wert auf ein faires Verfahren, das rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt. Und das gilt ausdrücklich für alle Beteiligten. ----------
[1]
Süddeutsche vom 21.10.2022
[2]
Tagesspiegel vom 19.01.2025
[3]
Business Insider vom 09.01.2025
[4]
LTO vom 21.01.2025
[5]
Deutschlandfunk Kultur vom 24.03.2021
[6] Süddeutsche vom 22.01.2025 (Paywall)
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