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| Archiv | Impressum 26. Februar 2025, von Michael Schöfer Es gibt immer etwas zu nörgeln Das war zu erwarten, und so läuft es ja oft: Nachdem sich in der Vergangenheit Gott und die Welt über die enorme Aufblähung des Deutschen Bundestages beklagt hat (statt 598 Abgeordnete waren es zuletzt 735), tritt nun das genaue Gegenteil ein. Jetzt wird kritisiert, dass einige Wahlkreissieger nicht in den Bundestag einziehen. Der Mannheimer Morgen sieht darin sogar eine Gefahr für die Demokratie. [1] Haben Sie es nicht ein bisschen kleiner, Herr Pecht? Natürlich ist es für die Betroffenen Direktkandidaten frustrierend, bei der Bundestagswahl gewissermaßen einem Lotteriespiel unterworfen zu sein (Stichwort: Zweitstimmendeckung), aber was wären denn die Alternativen? Die Zusammensetzung des Bundestages soll repräsentativ sein, d.h. die Interessen der Wählerinnen und Wähler eins zu eins widerspiegeln. Doch dazu war beim alten Wahlrecht ein kompliziertes System von Ausgleichsmandaten notwendig, das die erzielten Überhangmandate kompensierte. Wie kompliziert unser Wahlsystem ist, belegt die Tatsache, dass die meisten gar nicht genau wissen, was Überhang- und Ausgleichsmandate sind bzw. waren, denn die fielen durch die jüngste Wahlrechtsreform ersatzlos fort. Nur eben halt mit dem unvermeidlichen Preis, dass manche Wahlkreissieger kein Mandat bekommen. Das Wahlrecht wurde dadurch zwar etwas einfacher, aber unglücklicherweise noch nicht einfach genug. Wäre man allerdings beim alten Wahlrecht geblieben, hätte eine Aufblähung auf möglicherweise über 800 Abgeordnete gedroht. Zum Vergleich: Jetzt sind es 630. Eine Wahlrechtsmanipulation, wie seitens der Union in den Raum geworfen wurde, ist das neue Wahlrecht nicht, denn jede Partei bekommt genauso viele Mandate, wie sie nach dem Verhältniswahlrecht haben soll. Dass die Union traditionell die meisten Direktwahlkreise gewinnt und daher überproportional von der Anwendung der Zweitstimmendeckung betroffen ist, mag für CDU und CSU ärgerlich sein, ist aber in keinster Weise undemokratisch. So sah es übrigens auch das Bundesverfassungsgericht. Und es ist deshalb auch keine Gefahr für die Demokratie, wie der Mannheimer Morgen glauben machen will. Noch
einmal gefragt: Was sind die Alternativen? Wollen wir wieder
zu einer unsinnigen und teuren Aufblähung des Bundestages
zurückkehren? Wollen wir, dass das Wahlergebnis nicht mehr
repräsentativ ist, was unweigerlich einträte, wenn man
Überhangmandate nicht mehr ausgleichen würde? Wollen wir
riesige Wahlkreise, was die zwangsläufige Folge einer starken
Verringerung ihrer Anzahl wäre? Wollen wir ein reines
Mehrheitswahlrecht wie in Großbritannien, das ständig zur
massiven Ungerechtigkeiten bei der Zusammensetzung des
Parlaments führt? Oder ein ebenso fragwürdiges Grabenwahlsystem wie in Japan? In
irgendeinen sauren Apfel muss man beißen, die Mathematik lässt
sich nicht außer Kraft setzen. Bei jeder einzelnen Alternative
gäbe es bestimmt viel gewichtigere Einwände als bei der
aktuellen Regelung.
Meiner Meinung nach ist unser Wahlrecht jedoch generell zu komplex, weil für die Wählerinnen und Wähler noch immer unklar ist, welche Auswirkung ihre Wahlkreisstimme konkret hat. Zieht der von mir gewählte Abgeordnete ein oder nicht? Das ist leider vom Wahlverhalten in anderen Wahlkreisen abhängig. Deshalb bin ich für eine radikale Vereinfachung: Die vollständige Abschaffung der Wahlkreise und die Einführung eines reinen Verhältniswahlrechts mit nur noch einer einzigen Stimme. Dadurch ließe sich der Bundestag sogar wieder auf die ursprünglich vorgesehenen 598 Mandate begrenzen. Kandidaten müssten es dann auf die aussichtsreichen Plätze der Landesliste ihrer Partei schaffen, aber da Abgeordnete laut Grundgesetz ohnehin stets "Vertreter des ganzen Volkes" sind (Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 GG), sehe ich darin keinen Hinderungsgrund. Vor allem, wenn die Parteien bei der Aufstellung der Landesliste auf den regionalen Proporz achten. Jedenfalls könnten die Wählerinnen und Wähler dann, im Gegensatz zu heute, das Wahlrecht bestimmt ganz leicht erklären. Was in meinen Augen viel bedenklicher ist: Nach der Bundestagswahl 2025 bleiben immerhin 13,77 Prozent der Wählerinnen und Wähler vollkommen unrepräsentiert, weil es die von ihnen gewählten Parteien nicht über die fünfprozentige Sperrklausel schafften, deshalb sollte man eine Absenkung in Erwägung ziehen. Vor der Wiedervereinigung waren es in Westdeutschland selten mehr als fünf Prozent, die Anzahl der Nichtrepräsentierten hat sich somit drastisch erhöht. Und demokratietheoretisch ist das m.E. inakzeptabel. ----------
[1] Mannheimer Morgen vom 24.02.2025
(Paywall)
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