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27. Februar 2025, von Michael Schöfer
Deutsche Nuklearwaffen?


Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs taucht immer wieder die Frage auf, ob Russland auch zur Aggression übergegangen wäre, wenn die Ukraine 1994 nicht auf die von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen verzichtet hätte. Ob Kiew technisch in der Lage gewesen wäre, sie erfolgreich einzusetzen, steht auf einem anderen Blatt (die Ukraine sei angeblich zu keiner Zeit im Besitz der Freigabecodes gewesen). Dass Russland im Gegenzug im Budapester Memorandum die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine anerkannte, stellte sich bereits 2014 bei der Besetzung der Krim als völlig wertlos heraus. Aber hätte es Wladimir Putin wirklich gewagt, am 24. Februar 2022 eine atomar bewaffnete Ukraine anzugreifen? Eine Frage, die sich natürlich nur schwer beantworten lässt, doch der russische Diktator hätte sich den Angriff zweifelsohne sorgfältig überlegt. Da er sich bei seiner "militärischen Spezialoperation" schwer verkalkuliert hat, kann man darüber bloß spekulieren.

Auch hierzulande taucht seitdem immer wieder die Frage auf, ob sich Deutschland zur Abschreckung Nuklearwaffen zulegen soll. Zumal US-Präsident Donald Trump die Nato und die aus Artikel 5 des Nordatlantikvertrags resultierende Beistandspflicht mehr und mehr infrage stellt. Das Bündnis mit den USA erodiert zusehends und scheint dem Ende nah zu sein. Die Politik hält sich allerdings bei dieser Diskussion aus gutem Grund noch bedeckt, dafür sind andere weniger zurückhaltend. So fordert etwa der Politikwissenschaftler Christian Hacke deutsche Atomwaffen. Dass uns die Briten oder die Franzosen mit ihren Kernwaffen zur Seite stehen, sei illusorisch. "Wer gibt uns die Garantie, dass die Franzosen uns im Ernstfall schützen werden, vor allem mit Le Pen an der Macht? Denken Sie, die Briten würden ihre eigene Sicherheit für Deutschland aufs Spiel setzen, wenn sie es nicht mal in der EU ausgehalten haben?" [1]

Auch von europäischen Atomwaffen hält er wenig. "Wir müssen eine eigene atomare Abschreckungsfähigkeit entwickeln. Deutsche Atomwaffen wären friedenswahrend." Das habe schon Konrad Adenauer gewusst. "Ohne nuklearen Schutz sind wir militärisch gefährdet, und was noch schlimmer ist: politisch erpressbar." Die Bevölkerung ist gespalten, in einer repräsentativen Umfrage sprachen sich Anfang des vorigen Jahres 45 Prozent der Befragten für deutsche Atomwaffen aus und 44 Prozent dagegen. [2]

Bei der Frage, ob Deutschland Atomwaffen besitzen sollte, sind juristische, politische und militärische Gesichtspunkte zu beachten. Die Bundesrepublik hat 1975 den Atomwaffensperrvertrag ratifiziert, er verbietet Nichtkernwaffenstaaten den Erwerb, die Herstellung und den Besitz von Atomwaffen. Lediglich Indien, Israel, Pakistan und der Südsudan sind ihm nicht beigetreten, Nordkorea hat ihn 2003 gekündigt. Im Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die völkerrechtliche Grundlage der deutschen Wiedervereinigung ist, haben die Bundesrepublik Deutschland und die damals noch existierende Deutsche Demokratische Republik ihre Verpflichtungen aus dem Atomwaffensperrvertrag bekräftigt. Und sie verzichteten darin ausdrücklich auf die Herstellung, den Besitz und die Verfügungsgewalt über atomare, biologische und chemische Waffen (vgl. Artikel 3 Abs. 1). Ob man diese völkerrechtlichen Verpflichtungen unter der aktuellen weltpolitischen Entwicklung "neu bewerten" darf, um sich einzelnen Bestimmungen zu entziehen, ist sehr unwahrscheinlich. Russland könnte das außerdem zum Anlass nehmen, die Wiedervereinigung als Ganzes infrage zu stellen.

Und es ist politisch keineswegs ausgemacht, dass die westlichen Vertragsstaaten (Frankreich, Großbritannien, USA) eine atomare Bewaffnung Deutschlands dulden werden, vor allem wenn hier Rechtsextreme bei den Wählerinnen und Wählern wieder verstärkt Zuspruch finden. Die Nazi-Diktatur ist zwar vor 80 Jahren untergegangen, aber um mit Bertold Brecht zu sprechen: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." (Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui) Die Wunden des Zweiten Weltkriegs mögen vernarbt sein, doch die Erinnerung daran ist nach wie vor lebendig. Für viele Nachbarstaaten wäre daher ein atomar bewaffnetes Deutschland eine Horrorvorstellung. Und das vollkommen zu Recht, denn der deutsche Rechtsextremismus hat sich historisch gesehen als besonders bösartig erwiesen. Wer Artikel 3 missachtet, könnte etwa auch Artikel 1 missachten, in dem die polnische Westgrenze garantiert wird. Anders formuliert: Wer völkerrechtliche Verträge in die Tonne wirft, öffnet die Büchse der Pandora. Davon ist dringend abzuraten.

Militärisch macht ein atomar bewaffnetes Deutschland ebenso wenig Sinn. Eine atomare Auseinandersetzung in unserem dichtbesiedelten Land ist nahezu unvermeidbar mit dem kollektiven Selbstmord der gesamten Gesellschaft gleichzusetzen, den nur wenige überleben dürften. Und die Überlebenden werden vermutlich die Toten beneiden. Landgestützte Nuklearraketen, Marschflugkörper oder Kampfflugzeuge sind hochrangige Erstschlagsziele, deren Vernichtung großflächige Verwüstungen (euphemistisch Kollateralschäden) nach sich ziehen würden. Obendrein ist die Vorwarnzeit wegen den vergleichsweise geringen Entfernungen extrem kurz, der Einsatzbefehl müsste binnen weniger Minuten erfolgen (use them or lose them). Was naturgemäß Fehlalarme begünstigt, weil man keine Zeit mehr hat, einen Irrtum als solchen zu erkennen.

Nicht ohne Grund ist das Abschreckungspotenzial der Nuklearstreitkräfte Großbritanniens (225 Sprengköpfe) und Frankreichs (290 Sprengköpfe) fast ausschließlich auf U-Booten disloziert, sie sollen die gesicherte Zweitschlagsfähigkeit gewährleisten. Großbritannien und Frankreich besitzen jeweils vier Atom-U-Boote. Um eine glaubwürdige, ständig verfügbare Abschreckung zu garantieren, müsste Deutschland ähnlich strukturierte Atomstreitkräfte aufbauen. Die Kosten für die Entwicklung der Sprengköpfe, Raketen und U-Boote sowie deren Unterhalt sind gewaltig, was wiederum zulasten der konventionellen Verteidigungsfähigkeit ginge. Die Haushaltsmittel sind bekanntlich begrenzt. Die Briten bauen gerade vier neue Atom-U-Boote der Dreadnought-Klasse, die Kosten hierfür sollen rund 36 Mrd. Euro betragen (Stand März 2024). [3] Eine gewaltige Summe. Von den Kosten für die dazugehörige Infrastruktur ganz zu schweigen.

Es gibt natürlich keine Garantie, dass andere Staaten für Deutschland ihren eigenen Untergang riskieren, deshalb stand hinter der atomaren Abschreckung der USA schon von jeher ein riesengroßes Fragezeichen. Würden US-Präsidenten New York opfern, um Berlin zu rächen? Donald Trump traut man das sicherlich am wenigsten zu, denn bei diesem "Deal" gäbe es nichts zu gewinnen. Selbstverständlich ist es genauso ungewiss, ob Paris oder London für Berlin den Kopf hinhalten. Und eine europäische Nuklearstreitmacht ist derzeit schwer vorstellbar. Wer soll in der EU nach welcher Nukleardoktrin und nach welchem Konsultationsmechanismus die Kompetenz haben, auf den roten Knopf zu drücken? Natürlich lässt sich alles politisch klären, was aber bei der EU des Öfteren etliche Jahre dauert. Sofern man sich überhaupt einigen kann.

Deutschland ist in einem Dilemma: Eigene Nuklearstreitkräfte sind sündhaft teuer, politisch extrem schwer durchsetzbar und darüber hinaus militärisch in hohem Maße fragwürdig. Wenn nämlich die Abschreckung versagt und Deutschland eine radioaktive Trümmerwüste ist, tröstet uns auch der Gedanke wenig, dass es den Russen anschließend genauso ergeht. Der Erfolg der atomaren Abschreckung hängt daher allein am seidenen Faden der Vergeltungsangst bzw. der Risikobereitschaft des jeweiligen Kremlherrschers. Da selbst Putin kaum aus heiterem Himmel heraus einen Atomkrieg beginnen dürfte, schließlich kommt die nukleare Abschreckung auch für ihn einem Ritt auf der Rasierklinge gleich, ist die Herstellung der konventionellen Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr wahrscheinlich die beste Lösung. Denn letztlich würden sich auch atomar bewaffnete Deutsche fragen: Sollen wir wirklich Berlin für Riga opfern?

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[1] t-online vom 16.02.2024
[2] t-online vom 04.01.2024
[3] defence-network vom 27.03.2024