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| Archiv | Impressum 01. März 2025, von Michael Schöfer In Stein gemeißelte Gewissheiten lösen sich auf Spätestens nach dem Eklat im Weißen Haus, bei dem Donald Trump und J.D. Vance den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj offenbar vorsätzlich demütigten, sollte klar sein: Die USA haben sich vom Bündnis mit Europa losgesagt, die Beistandsverpflichtung des Nordatlantikvertrags ist faktisch hinfällig geworden. In Moskau und Peking knallen bestimmt die Sektkorken. Und es ist vollkommen zwecklos, dem US-Präsidenten nun unterwürfig in den Allerwertesten zu kriechen, wir Europäer müssen vielmehr endlich aufwachen und unsere Verteidigung selbst übernehmen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe und kostet viel Geld, ist aber leider unumgänglich. Wer sich nämlich auf die USA verlässt, der ist verlassen. Zu dieser Erkenntnis dürften mittlerweile alle Verbündeten der Vereinigten Staaten gekommen sein, nicht bloß wir Europäer. In Südkorea, Taiwan und Japan ist man sicherlich genauso entsetzt. Von den Anrainern des Südchinesischen Meeres ganz zu schweigen. Was wir uns ebenfalls klarmachen sollten: Wir leben in einer Vorkriegszeit, nüchtern betrachtet kann man zu keinem anderen Ergebnis kommen. Wenn Russland in der Ukraine gewinnt, sind insbesondere die osteuropäischen Staaten, die früher zum Warschauer Pakt gehörten (Polen, Ungarn, Slowakei, Tschechien, Bulgarien, Rumänien und die baltischen Staaten), in größter Gefahr. Moskau forderte im Dezember 2021 von der Nato, sich auf den Stand von 1997 (vor der Osterweiterung) zurückzuziehen. Bisher hätte die Absicht Russlands, seine inakzeptable Forderung mit Gewalt durchzusetzen, unweigerlich einen Krieg mit der Nato ausgelöst. Jetzt, nachdem Donald Trump die USA de facto aus dem nordatlantischen Bündnis herausgelöst hat, öffnet sich für Putin ein Zeitfenster von mindestens vier Jahren, das bis zum voraussichtlichen Ende der Amtszeit des US-Präsidenten im Januar 2029 reicht. Da sich die USA unter Donald Trump wohl kaum an der Verteidigung Europas beteiligen dürften, könnte der russische Präsident einen Angriff auf einige oder sogar alle osteuropäischen Staaten wagen. Zwar ist er momentan durch die gewaltigen Verluste an Mensch und Material geschwächt, aber Russland rüstet derzeit massiv auf. Könnten die Europäer einen Angriff ohne die Hilfe der USA erfolgreich abwehren und besetzte Gebiete wieder befreien? Das erscheint aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Doch das muss ja nicht so bleiben. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Die Europäer müssen jetzt endlich ihre Verteidigung gemeinsam in die Hand nehmen, und das recht schnell. Aber nicht nur darüber reden, sondern den Worten auch tatsächlich Taten folgen lassen. Nationale Egoismen können wir uns nicht mehr erlauben. Ein Beispiel, wie dilettantisch wir Europäer unsere Verteidigung organisieren und durch haarsträubende Ineffizienz unnötige Mehrkosten verursachen: Das Future Combat Air System ist ein deutsch-französisch-spanisches Gemeinschaftsprojekt zur Entwicklung eines Kampfjets der sechsten Generation. Das Global Combat Air Programme ist ein britisch-italienisch-japanisches Gemeinschaftsprojekt. Was soll es tun? Genau das Gleiche, einen Kampfjet der sechsten Generation entwickeln. Warum sich die Staaten nicht zusammentun, um ein Kampfflugzeug anstatt kostentreibend zwei zu entwickeln, ist mir ein Rätsel. Man braucht kein BWL-Studium, um zu wissen: Je mehr Kampfflugzeuge gebaut und verkauft werden, desto geringer sind die Stückkosten. Die Luftwaffen der Abnehmerländer könnten die Ausbildung, die Ersatzteilversorgung und die Wartung koordinieren, sich im Ernstfall gegenseitig mit Ersatzteilen, Waffensystemen und sofort einsatzfähigem Personal aushelfen. Was spricht dagegen? Bloß der nationale Egoismus, jedes Land will einen möglichst großen Anteil für die eigene Rüstungsindustrie abbekommen. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Die Verantwortlichen haben den Schuss wirklich noch nicht gehört. Warum wachen sie nicht auf? Es ist zum Haare ausraufen! Mit Waffen aus eigener Produktion wäre auch deren Verwendung gewährleistet. So werden etwa mit Blick auf die F-35 von Lockheed Martin, von der die Bundeswehr 35 Stück bestellt hat, immer wieder Zweifel geäußert, ob der moderne Kampfjet gegen den Willen der USA einsetzbar ist. [1] Für Laien schwer zu beurteilen, ob an den bislang unbewiesenen Behauptungen etwas dran ist. Aber ein Risiko bleibt allemal, vor allem wenn im Oval Office ein so unberechenbarer Mensch wie Donald Trump regiert. Die Weltpolitik ändert sich derzeit rapide, früher in Stein gemeißelte Gewissheiten lösen sich plötzlich in Luft auf. Die neue Realität ist wesentlich gefährlicher als die in den zurückliegenden Jahrzehnten. Und wir Europäer sind weitgehend auf uns selbst gestellt. Zweifellos ein Schock, von dem wir uns aber nicht lähmen lassen sollten. Europa kann die Krise bewältigen, sofern es die Weichen richtig stellt. Was wir uns allerdings nicht mehr leisten können, ist das Festhalten an Illusionen, apathisches Nichtstun und naives Wunschdenken. Hoffentlich lernen alle schnell dazu und ziehen die richtigen Konsequenzen. ----------
[1] siehe z.B. t-online vom 23.02.2025
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