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20. Mai 2025, von Michael Schöfer
Benjamin Netanjahus zynisches Spiel mit dem Hunger


Inzwischen warnen der New York Times zufolge sogar israelische Offiziere vor einer Hungersnot im Gazastreifen [1], doch Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu betreibt weiterhin sein zynisches Spiel mit dem Hunger: Im fast vollständig zerstörten Gazastreifen leben ca. 2,1 Millionen Menschen. Seit Anfang März blockierte Israel alle Hilfslieferungen für die Zivilbevölkerung, nun durften endlich fünf Lastwagen mit Hilfsgütern den Grenzübergang Kerem Schalom passieren. Fünf Lastwagen für 2,1 Millionen Menschen! Notwendig wären Hunderte. Vor Beginn des Gaza-Kriegs im Oktober 2023 transportierten rund 500 Lastwagen Waren in das Küstengebiet. Wohlgemerkt, 500 pro Tag.

Die Terrororganisation Hamas würde die Hilfsgüter gewinnbringend weiterverkaufen, um ihre Kämpfer und Waffen zu finanzieren, behauptet die israelische Regierung. Allerdings fehlt der dortigen Zivilbevölkerung schon seit langem das Geld für das Allernotwendigste. "Familien kämpfen ums Überleben. Sie sind eingeschlossen und können nicht fliehen, um sich in Sicherheit zu bringen. Die Felder, die sie früher bestellt haben, wurden zerstört. Der Zugang zum Meer, das sie zum Fischen genutzt haben, wurde eingeschränkt. Bäckereien schließen, die Wasserproduktion geht zurück und die Marktregale sind fast leer. Humanitäre Hilfe war die einzige Lebensader für Kinder, und nun ist sie fast versiegt. Im vergangenen Monat haben über 75 Prozent der Haushalte von einer Verschlechterung des Zugangs zu Wasser berichtet. Sie haben nicht genug Wasser zum Trinken, können sich nicht immer die Hände waschen, und müssen sich oft zwischen Duschen, Putzen und Kochen entscheiden", sagt Catherine Russell, Exekutivdirektorin des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (UNICEF). [2] Angesichts dessen können da für die Waffen der Hamas kaum relevante Summen zusammenkommen. Außerdem: Selbst wenn, woher bekommt die Hamas im konsequent abgeriegelten Gazastreifen überhaupt die Waffen geliefert? Die Schmuggler-Tunnel im seit Mai 2024 unter israelischer Kontrolle stehenden Philadelphi-Korridor an der Grenze zu Ägypten sind schließlich zerstört. Die israelische Rechtfertigung ist daher lediglich als Schutzbehauptung einzustufen.

"Wir dürfen die Bevölkerung nicht im Hunger versinken lassen, sowohl aus praktischen als auch aus diplomatischen Gründen", zeigt sich Netanjahu scheinbar einsichtig. "Sogar die Freunde Israels würden 'Bilder vom Massenhunger' nicht tolerieren." [3] Wenig verwunderlich, denn die Bevölkerung auszuhungern ist ein Kriegsverbrechen, wenn nicht sogar ein Völkermord (vgl. Artikel 6 und 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs). Doch Netanjahu weiß ganz genau, dass fünf Lkw für die Abwendung einer Hungersnot völlig unzureichend sind, er will bloß die Weltöffentlichkeit beruhigen. Motto: "Seht her, wir tun ja was." Sein Verhalten ist an Zynismus kaum zu überbieten. Wenn die Menschen dort den Hungertod sterben, wird das das ohnehin ramponierte Ansehen Israels für lange Zeit völlig ruinieren.

"Wir bewegen uns auf das Ende der Phase der Zerschlagung der Terror-Armee der Hamas zu", verkündete Netanjahu Anfang Juli 2024. [4] Doch jetzt, knapp ein Jahr danach, ist der Krieg immer noch nicht vorbei, hat aber inzwischen mehr als 53.000 Palästinensern das Leben gekostet. Und das waren beileibe nicht alle Terroristen. Das, was Kritiker von Anfang an gesagt haben, bewahrheitet sich offenbar: Der israelische Ministerpräsident hat kein politisches Konzept, wie er diesen Krieg wieder beenden will. Wenn er ihn denn überhaupt beenden will. Es wird ja häufig unterstellt, dass Israel die Palästinenser ganz aus dem Gazastreifen vertreiben möchte und den Menschen deshalb dort gezielt die Lebensgrundlage entzieht.

Vermutlich nicht einmal zu Unrecht, wenn man sich Äußerungen von Regierungspolitikern zu Gemüte führt. "Ich begrüße die Initiative zur freiwilligen Auswanderung von Gaza-Arabern in Länder weltweit", erklärte etwa der israelische Finanzminister Bezalel Smotrich bereits kurz nach Beginn des Krieges. [5] Unterdessen hat Israel sogar eine neue Behörde geschaffen, die "die freiwillige Ausreise von Bewohnern des Gazastreifens in Drittländer auf sicherem und kontrolliertem Wege vorbereiten" soll. [6] Was man halt unter diesen Umständen so als "freiwillige Ausreise" bezeichnet. Wohin die Menschen ausreisen könnten, ist obendrein nach wie vor unklar, denn sowohl Ägypten als auch Jordanien lehnen die Umsiedlung der Palästinenser kategorisch ab.

Wie lange will der Westen diesem zynischen Spiel noch zuschauen? Gewiss, von Washington ist kein Widerstand zu erwarten, schließlich will Donald Trump den Gazastreifen zur "Riviera des Nahen Ostens" machen. Ein luxuriöser Badestreifen also, der aber faktisch mit Leichen gepflastert ist. Von Deutschland ist historisch bedingt ebenfalls wenig Widerstand zu erwarten, was freilich falsch ist. Wenn es eine Lehre aus der dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte gibt, dann doch hoffentlich die, dass die Menschenrechte und das Völkerrecht unser alleiniger Maßstab sind. Unabhängig davon, wer konkret dagegen verstößt, sollte dieser Maßstab auch unsere Beziehungen zu anderen Staaten dominieren. Zu allen Staaten. Der Vorwurf, wir würden Doppelstandards praktizieren, ist gerade mit Blick auf Israel nicht unberechtigt. Mitschuld, das ist die historische Lehre, beginnt aber schon beim Schweigen und Wegsehen.

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[1] New York Times vom 13.05.2025
[2] UNICEF vom 02.05.2025
[3] Frankfurter Rundschau vom 20.05.2025
[4] Spiegel-Online vom 01.07.2024
[5] Reuters vom 14.11.2023
[6] DW vom 24.03.2025