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| Archiv | Impressum 01. Juni 2025, von Michael Schöfer Was viele übersehen Heute wählen die Polen einen neuen Staatspräsidenten, in die Stichwahl kamen der proeuropäische Bürgermeister von Warschau, Rafal Trzaskowski (Bürgerplattform), und der von der rechtspopulistischen PiS-Partei nominierte Karol Nawrocki. Ein Artikel in der Süddeutschen klärt uns lang und breit darüber auf, was für ein schlimmer Finger dieser Nawrocki ist. Das Auftreten des ehemaligen Boxers "ist aggressiv, seine Aussagen erratisch. (…) Alles, was aus Brüssel kommt, ist nach Nawrockis Aussagen letztlich antipolnisch und deutsch-französische Einmischung." [1] Das mag ja sein, aber die Süddeutsche überließ es dann der links-alternativen taz, das Augenmerk auf einen anderen Aspekt zu lenken: Auf die Armut. "Immer mehr Polen und Polinnen leben in Armut, ihre Zahl übertrifft die Bevölkerung der größten Stadt. Vor allem Rentnerinnen sind betroffen. (…) Konkret leben rund 2,5 Millionen Polen und Polinnen in extremer Armut und knapp 17,5 Millionen unterhalb des sozialen Minimums. Dies stellte Ende 2024 das polnische Komitee des Europäischen Netzwerks zur Bekämpfung der Armut (EAPN) in ihrem jährlichen Armutsreport fest." [2] Die rechtspopulistische PiS von Jaroslaw Kaczyński regierte zuletzt vom 16. November 2015 bis zum 13. Dezember 2023 und ist zweifellos eine Gefahr für die Demokratie. Allerdings ist die Einkommensungleichheit in dieser Zeit kontinuierlich gesunken. [3] Mit einer Ausnahme: 2023 stieg sie wieder, was wohl mitverantwortlich für den Regierungswechsel von der PiS zur PO war. Doch wenn die Prognose von Statista tatsächlich zutrifft, muss man leider konstatieren, dass sie seit der Regierungsübernahme von Donald Tusk ebenfalls wieder steigt. Es hat also durchaus Gründe, warum dubiose Figuren wie Nawrocki auf Stimmen hoffen dürfen. Rechtspopulisten, das sieht man momentan insbesondere in den USA, haben für die Entwicklung der Wirtschaft meist keine überzeugenden Lösungen anzubieten. Aber sie reiten erfolgreich auf der Welle der Empörung, die sich durch die ökonomische Ungleichheit gebildet hat. Die Frage ist demzufolge berechtigt: Warum schaffen es die Vertreter der liberalen Demokratie immer weniger, mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen? Warum grassiert etwa in praktisch allen Staaten des reichen Westens eine skandalöse Wohnungsnot? Weil das Establishment zu viel unberechtigtes Vertrauen in das Funktionieren von Märkten hat? Weil die Vertreter von Partikularinteressen zu einflussreich sind? Es scheint so. Das Gleiche passiert übrigens gerade in Großbritannien. Die Reform UK von Nigel Farage, der den Briten den Brexit schmackhaft gemacht hat, liegt derzeit in den Umfragen von YouGov an der Spitze - satte 10 Prozentpunkte vor der regierenden Labour Party von Keir Starmer. Farage kann sich aufgrund des Mehrheitswahlrechts berechtigte Hoffnungen machen, Großbritanniens nächster Premierminister zu werden. Eigentlich unfassbar. Warum? Weil die Armut in Großbritannien groß ist, die Einkommensungleichheit liegt heute im Schnitt sogar über den berüchtigten Thatcher-Jahren [4], und weil auch Labour unter Starmer im Sozialbereich spart. Deshalb braucht man sich über solche Umfrageergebnisse nicht zu wundern. Man darf gespannt sein, was uns in Deutschland die neue schwarz-rote Bundesregierung beschert, bislang ist das im Wesentlichen alter Wein in neuen Schläuchen (Klientel-Politik: Agrardiesel-Förderung, Mehrwertsteuersenkung in der Gastronomie). Beim Thema Wohnungsbau probiert es die Koalition mit den gleichen Rezepten, die schon seit zwei Jahrzehnten wenig gegen die Mietenexplosion geholfen haben. Anstatt etwas anderes auszuprobieren, zum Beispiel die Vorschläge von Hans-Jochen Vogel [5], wird die Verabreichung der wirkungslosen Medizin (Mietpreisbremse) lediglich verlängert. Ob das hilft, ist zu bezweifeln. "It's the economy, stupid!" Bill Clinton brachte es 1992 im US-Wahlkampf auf den Punkt. Wenn die liberalen Demokratien unfähig sind, die Schere zwischen Arm und Reich wieder etwas zu schließen, setzen sie ihren Bestand aufs Spiel. Dann gewinnen nämlich so destruktive Kräfte wie Donald Trumps fanatische MAGA-Bewegung. ----------
[1]
Süddeutsche vom 30.05.2025 (Paywall)
[2]
taz vom 30.05.2025
[3]
Statista, Entwicklung der
Einkommensungleichheit auf Basis des Gini-Index im Zeitraum
2013 bis 2023
[4]
siehe Es ist die Ungleichheit vom 06.05.2025
[5] siehe So kann und darf es nicht weitergehen
vom 27.05.2023
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