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03. Juni 2025, von Michael Schöfer
Gilt nicht für Bundeskanzler und Bundesminister der Union


Jetzt ist genau das eingetreten, was man der Union schon im Wahlkampf prophezeit hat, dass ihre Vorschläge zur Migration rechtswidrig sind. Aber obwohl die Bundesregierung laut Grundgesetz an Recht und Gesetz gebunden ist (vgl. Artikel 20 Abs. 3 GG), erleben wir derzeit eine nahezu beispiellose Missachtung von Gerichtsurteilen. Das Verwaltungsgericht Berlin hat die Zurückweisung von Asylsuchenden an der Grenze als rechtswidrig deklariert, doch Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) spricht von einem Einzelfall, er werde deshalb seine Anweisung nicht zurücknehmen. Dabei ist das Verwaltungsgericht in seinem Urteil grundsätzlich auf die Rechtslage eingegangen, wie sie das höherrangige EU-Recht vorgibt. Danach muss entsprechend dem Dublin-Verfahren zumindest geprüft werden, welcher Staat für das Asylverfahren zuständig ist. Argumente, die für eine Notlage sprechen könnten, ließ das Gericht dagegen nicht gelten (Beschluss vom 02.06.2025, VG 6 L 191/25). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat darüber bereits mehrfach geurteilt.

Der brandgefährliche Dilettantismus des Ministers ist definitiv kein Einzelfall. Alexander Dobrindt anno 2014 im Brustton der Überzeugung: "Zweifel an der Vereinbarkeit mit EU-Recht hat der Minister nicht. Es sei europarechtlich zulässig, die Kfz-Steuer oder Mineralölsteuer zu senken und im Gegenzug die Autofahrer durch die Einführung einer Vignette an der Finanzierung der Infrastruktur zu beteiligen. Die Steuergesetzgebung sei nämlich grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten." [1] Es ging um die von ihm geplante Pkw-Maut. Und auch damals hatte er den Rückhalt der Union. Bloß wollte er später, als das Projekt am EuGH gescheitert ist, dafür keine Verantwortung mehr übernehmen. Logisch, schuld sind ja immer die anderen. Heute ignoriert er aufs Neue die Bedenken der meisten Juristen.

Wenn jemand wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt wird, heißt das nicht, dass man dann mit der Behauptung, dies sei bloß eine Einzelfallentscheidung gewesen, trotzdem rasen darf. Es gelten nämlich, wie das Berliner Gericht klargemacht hat, die Gesetze. Und die sind eben einzuhalten - ob das einem Innenminister gefällt oder nicht. Seine Weigerung, die Bindungswirkung des Urteils anzuerkennen, spielt nur den rechtsextremistischen Verfassungsfeinden in die Hände. Den Radikalen nimmt man jedoch bekanntlich nicht dadurch den Wind aus den Segeln, indem man selbst radikal daherredet. Im Gegenteil, man fördert sie vielmehr. Wenn sich ein Bundesinnenminister sehenden Auges über Recht und Gesetz hinwegsetzt, könnten sich andere dazu ebenfalls ermutigt fühlen. Was sich daraus entwickeln kann, erleben wir gerade in den USA.

Dabei sagen CDU und CSU in ihrem gemeinsamen Wahlprogramm "Ja zu Recht und Ordnung". Ihr Plan ist die Null-Toleranz-Strategie: "Wer sich nicht an Recht und Gesetz hält, muss umgehend bestraft werden." [2] Super! Durch einen Fehler der Druckerei fehlte allerdings die nachfolgende Einschränkung: "Gilt nicht für Bundeskanzler und Bundesminister der Union." Diesem Personenkreis sind CDU und CSU schon von jeher mit großer Toleranz begegnet. Aha, das war also mit dem versprochenen Politikwechsel gemeint: Rechtsbruch.


Wer im Wahlkampf die Latte besonders hoch legt, kann sie zwangsläufig nur unterqueren. Will heißen: Die Union hat den Mund viel zu voll genommen und kommt nun nicht mehr gesichtswahrend aus dieser Sackgasse heraus. Vermutlich wird die Angelegenheit wie bei der Pkw-Maut am Ende vom EuGH entschieden. Aber im Grunde müsste ein Minister, der vor einem Monat seinen Amtseid leistete und bereits jetzt dagegen verstößt, umstandslos zurücktreten. Doch die Rechtstreue ist mittlerweile genauso auf den Hund gekommen wie der Anstand.

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[1] LTO vom 07.07.2014
[2] CDU, Politikwechsel für Deutschland, Wahlprogramm von CDU und CSU, Seite 36, PDF-Datei mit 1,8 MB