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| Archiv | Impressum 15. Juli 2025, von Michael Schöfer Manchmal muss Urteilskritik sein Normalerweise halte ich mich hier mit Kritik an Gerichtsurteilen zurück, weil die Richter meist gute Gründe für ihr Urteil haben und im Gegensatz zu mir bei der Beweisaufnahme dabei waren. Ohne Kenntnis der näheren Umstände und des Angeklagten kann man kaum zu einer angemessenen Bewertung des Falls kommen. Allerdings mache ich heute einmal eine Ausnahme, weil mir zwei, wie ich meine, unverhältnismäßige Urteile aufgestoßen sind. Fall Nr. 1: Ein 84-jähriger Autofahrer fährt in Berlin eine Frau und ihren vierjährigen Sohn tot. "Der Angeklagte leide bereits seit längerer Zeit an einer Herzerkrankung. Diese habe dazu geführt, dass der Angeklagte kurz vor dem Unfall einen Herzanfall erlitten habe und die Kontrolle über das Fahrzeug verloren habe. Als der Angeklagte die Frau und ihr Kind gesehen habe, habe er noch versucht, gegenzulenken. Dies sei ihm aber nicht rechtzeitig gelungen. (…) Der eigentliche Schuldvorwurf bestehe darin, so die Vorsitzende in ihrer heutigen mündlichen Urteilsbegründung, dass der Angeklagte in sein Fahrzeug gestiegen sei, obwohl er gewusst habe, dass er an einer Erkrankung leide, die jederzeit zu körperlichen Ausfallerscheinungen führen könne. Dies habe zum Tod von zwei Menschen geführt. Aus diesem Grund hat das Gericht den Angeklagten für schuldig befunden. Der Angeklagte habe zwei Menschen getötet und eine ganze Familie zerstört." [1] "Mit 89 Kilometern pro Stunde habe der Autofahrer die 41-jährige Frau aus Belgien und ihren Sohn erfasst. Fünf weitere Menschen wurden verletzt. Nach Überzeugung des Gerichts befuhr der Senior zunächst die Busspur. Statt der dort erlaubten 30 Kilometer pro Stunde soll er auf 70 bis 90 Kilometer pro Stunde beschleunigt haben", schildert der rbb das Geschehen. [2] Mutter und Kind wurden laut BZ "30 Meter durch die Luft geschleudert". [3] Sie hatten offenbar keine Chance. Der Angeklagte sei jedoch zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes nicht mehr schuldfähig gewesen, meinte das Gericht. Urteil: zwei Jahre Haft auf Bewährung. Fall Nr. 2: Ein 32-Jähriger und 39-Jähriger sägten vor knapp zwei Jahren am Hadrianswall den berühmten "Robin-Hood"-Baum mit einer Kettensäge ab, der Baum soll 200 Jahre alt gewesen sein und wurde oft fotografiert (einer der meistfotografierten Bäume Großbritanniens). "Die Richterin am Newcastle Crown Court verurteilte die beiden Männer zu jeweils vier Jahren und drei Monaten Haft. Die Tat habe erhebliche soziale Auswirkungen gehabt, sagte sie zur Begründung und ergänzte: Der Baum sei ein bedeutendes Kulturerbe gewesen und ein Symbol für die Schönheit der Region." [4] "Sinnloser Vandalismus", meinte die Staatsanwaltschaft. Und das vollkommen zu Recht. Die Männer waren zwar der Verteidigung zufolge betrunken, mussten aber 40 Minuten mit dem Auto zu einem Parkplatz fahren und 20 Minuten zu dem Baum laufen, weshalb das Gericht von einer vorsätzlichen Tat ausging. Gewiss, der 84-jährige Autofahrer hat die Frau und das Kind nicht absichtlich getötet, ist aber trotz Kenntnis seiner Krankheit mit dem Auto gefahren, hätte also schon vor Antritt der Fahrt wissen müssen, welche Folgen das haben kann. Die britischen Baumfäller wiederum haben die Tat in voller Absicht begangen, ob aus Dummheit oder Bösartigkeit ist völlig unerheblich. Dennoch: Im Berlin starben zwei Menschen und fünf weitere wurden verletzt. In Großbritannien war es "bloß" ein Baum, wenngleich ein besonderer. Meiner Meinung nach sind beide Urteile unverhältnismäßig, die Verurteilung des Rentners zu mild und das Urteil der Baumfäller zu hart. Einen Baum kann man wieder anpflanzen, die Toten kehren nie wieder zu ihren Angehörigen zurück. ----------
[1]
Berlin.de, Pressemitteilung vom
27.06.2025, AG Berlin-Tiergarten, 27.06.2025 - 212 Ls 1/25,
Urteil noch nicht im Volltext verfügbar
[2]
rbb vom 27.06.2025
[3]
BZ vom 27.06.2025
[4] tagesschau.de vom 15.07.2025
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