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| Archiv | Impressum 23. Juli 2025, von Michael Schöfer Merz' lockerer Umgang mit der Wahrheit Die Situation für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen wird immer schlimmer, weshalb 29 Nationen in einer gemeinsamen Erklärung von Israel fordern: "Der Krieg im Gazastreifen muss jetzt enden. Das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza hat ein neues Ausmaß erreicht. Das Hilfsmodell der israelischen Regierung ist gefährlich, fördert Instabilität und beraubt die Gaza-Bewohner ihrer Menschenwürde. (…) Die Verweigerung lebenswichtiger humanitärer Hilfe durch die israelische Regierung für die Zivilbevölkerung ist inakzeptabel. Israel muss seinen Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht nachkommen. (…) Wir fordern alle Parteien auf, die Zivilbevölkerung zu schützen und die Verpflichtungen des humanitären Völkerrechts einzuhalten. Vorschläge, die palästinensische Bevölkerung in eine 'humanitäre Stadt' zu bringen, sind völlig inakzeptabel. Dauerhafte Zwangsvertreibungen sind eine Verletzung des humanitären Völkerrechts. Wir lehnen jegliche Schritte zu territorialen oder demografischen Veränderungen in den besetzten palästinensischen Gebieten entschieden ab." [1] Unterzeichnet
haben die Außenminister von Australien, Österreich, Belgien,
Kanada, Zypern, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich,
Island, Irland, Italien, Griechenland, Japan, Lettland,
Litauen, Luxemburg, Malta, den Niederlanden, Neuseeland,
Norwegen, Polen, Portugal, der Slowakei, Slowenien, Spanien,
Schweden, der Schweiz und dem Vereinigten Königreich. Der
deutsche Außenminister Johann Wadephul war nicht dabei.
Bundeskanzler Friedrich Merz "verwies darauf, dass es bereits eine gemeinsame Erklärung des letzten EU-Gipfels gebe, die 'praktisch inhaltsgleich ist mit dem, was in dem Brief jetzt zum Ausdruck kommt'. Er selbst habe diese Erklärung mit ausgehandelt." Die Frage, warum Deutschland die Erklärung der 29 nicht mitunterzeichnet hat, obwohl sie "praktisch inhaltsgleich" ist, lässt er trotzdem unbeantwortet. Unverständlich. "Der Bundesaußenminister hat die Erklärung nicht unterschrieben, da sie die gefühlte Isolation der israelischen Regierung nur verstärkt", will uns Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, weismachen. [2] Doch das ist eine faule Ausrede, denn die "gefühlte" Isolation Israels ist in Wahrheit eine reale. Im Wesentlichen stehen bloß noch zwei Länder fest zu Israel: Deutschland und die USA. Und beide haben sich damit selbst in der Welt isoliert, weil man ihnen zu Recht Doppelstandards vorwirft. Typisch für Merz ist sein lockerer Umgang mit der Wahrheit. Er sei "in Deutschland einer der Ersten gewesen, die in aller Deutlichkeit die Zustände im Gazastreifen als nicht hinnehmbar beschrieben hätten." [3] Doch stimmt das wirklich? Wir erinnern uns: Auf der Berlinale 2024 gab es einen vermeintlichen Skandal. Der US-amerikanische Regisseur Ben Russell sprach in seiner Dankesrede von einem "Genozid in Gaza". Der jüdische Filmemacher "Yuval Abraham beklagte die Ungleichbehandlung zwischen Palästinensern und Israelis im Westjordanland und nutzte dabei den Begriff 'Apartheid'". [4] Aus den Reihen der Union wurde ihnen deshalb Israelfeindlichkeit und Antisemitismus vorgeworfen. Die Kleine Anfrage "Israelfeindliche und antisemitische Äußerungen auf der Berlinale" trägt die Unterschrift von Friedrich Merz. [5] Die Wahrheit ist: Als andere in aller Deutlichkeit die Zustände im Gazastreifen als nicht hinnehmbar beschrieben, hat er solche Äußerungen zu diskreditieren versucht. Als
Oppositionsführer hat er das Vorgehen Israels im Gazastreifen
bei einem Besuch in Jerusalem im Februar 2024 sogar
ausdrücklich verteidigt: "Die israelische Regierung und die
israelische Armee tun nach meinem Eindruck alles, um die
Zivilbevölkerung dort zu schützen." Er übernahm damit eins zu
eins die Propaganda von Benjamin Netanjahu. "Die
palästinensische Zivilbevölkerung werde vor militärischen
Einsätzen gewarnt und per Telefon sowie Flugblatt
aufgefordert, jene Gebiete zu verlassen, in denen dann
militärische Aktionen stattfänden, sagte Merz. Aber wahr ist
auch: Es gibt zivile Opfer. Es wird auch weiter zivile Opfer
geben. Zugleich betonte Merz: 'Das Ziel, den Hamas-Terror
endgültig zu besiegen, ist, glaube ich, ein sehr
verständliches Ziel.' Er habe Netanjahu gesagt, 'dass ich das
voll und ganz unterstütze und verstehe, dass die israelische
Regierung und die israelische Armee diesen Weg gehen'." [6]
Wenig verwunderlich, dass sich die israelische Regierung
anschließend bei Merz für die "unerschütterliche Unterstützung
Israels" bedankte.
Annalena Baerbock, Bundesaußenministerin der Ampelregierung, war damals wesentlich hellsichtiger, sie warnte angesichts des israelischen Bombardements im Gazastreifen vor einer "humanitären Katastrophe mit Ansage". [7] Und der Bundeskanzler der Ampelregierung, Olaf Scholz, sagte kurz danach bei einem Besuch in Jordanien: "Es ist ganz klar, dass wir jetzt alles dafür tun müssen, dass die Situation nicht noch schlimmer wird als sie ist. Ich glaube, dass eine große Zahl von Opfern bei einer solchen Offensive jede friedliche Entwicklung dann sehr schwer machen würde." [8] Scholz forderte eine Waffenruhe im Gazastreifen. Die hatten 20 SPD-Bundestagsabgeordnete schon im Januar 2024 gefordert: "Waffenstillstand jetzt: Humanitäre Katastrophe abwenden, Zwei-Staaten-Lösung vorantreiben." [9] Warum sahen sie, was Friedrich Merz partout nicht wahrhaben wollte: die humanitäre Katastrophe? Merz ist in Deutschland keineswegs einer der Ersten gewesen, die in aller Deutlichkeit die Zustände im Gazastreifen als nicht hinnehmbar beschrieben haben. Nichts könnte falscher sein, vielmehr ist das Gegenteil richtig. Während er ungeachtet den Bombardierungen in unverbrüchlicher Treue zu Israel stand, haben andere längst vor dem gewarnt, was jetzt alle entsetzt beklagen: eine Trümmerwüste, Hungersnot, massive Menschenrechtsverletzungen und die Begehung von Kriegsverbrechen durch die israelische Armee, womöglich sogar die Vorbereitung eines Genozids seitens der israelischen Regierung. Merz' Rechtfertigung ist schlicht und ergreifend unwahr! Typisch Merz eben. ----------
[1]
Gov.UK, Occupied Palestinian
Territories: joint statement, 21 July 2025
[2]
ZDF vom 22.07.2025
[3]
Deutschlandfunk vom 22.07.2025
[4]
NDR vom 29.02.2024
[5]
Deutscher Bundestag, Drucksache
20/10826 vom 25.03.2024, PDF-Datei mit 292 KB
[6]
ZDF vom 12.02.2024
[7]
BR24 vom 10.02.2024
[8]
tagesschau.de vom 17.03.2024
[9] Isabel Cademartori, Offener Brief vom
18.01.2024
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