Home | Archiv | Impressum



30. August 2025, von Michael Schöfer
Zeit für einen Faktencheck


Faktenchecks sind beim Öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) sehr beliebt, allerdings nehmen es die Journalisten beim ÖRR mit ihren eigenen Fakten selbst nicht so genau, denn die werden dort gerne mal verdreht, sofern es ihnen opportun erscheint. Der jüngste Fall ist das ZDF-Sommerinterview mit der Co-Vorsitzenden der Linken, Ines Schwerdtner. [1] Kritische Fragen sind natürlich völlig in Ordnung, aber wenn zu historischen Ereignissen skurrile Parallelen gezogen werden, um den Israel-Kritikern unterschwellig Antisemitismus zu unterstellen, hat das nichts mehr mit seriösem Journalismus zu tun.

ZDF-Journalist Wulf Schmiese fragte Ines Schwerdtner: "Das Assoziierungsabkommen gibt es seit 25 Jahren, das ist im Grunde der Freihandel mit Israel. Da haben wir ein Abkommen, viele Kapitel drin, und als wichtigstes sicherlich der wirtschaftliche Freihandel, den es dort gibt. Sie wollen das jetzt kippen. Und da sagen auch Leute in der Bundesregierung: Sagt mal, geht's noch? Das gab es schon mal vor 90 Jahren, wahrscheinlich auch hier in Lichtenberg: 'Kauft nicht bei Juden!' Wir sollen jetzt einen Handelsboykott machen gegen Israel? Wir als Deutsche? Die Franzosen können das fordern, die Briten vielleicht auch. Aber Sie als Antifaschistin, muss ich noch einmal fragen, Sie wollen wirklich 'Kauft nicht bei Juden!' unterstützen?" (ab Min.12:44) Die Gleichsetzung der Forderung nach Aussetzung des Assoziierungsabkommens der EU mit Israel und dem "Judenboykott" der Nazis ist infam und obendrein auch sachlich falsch.

Zur Erinnerung: "'Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!' - unter Parolen wie dieser begann am 1. April 1933 um 10 Uhr ein reichsweiter Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Rechtsanwälte. (…) Angehörige der Sturmabteilung (SA) und der Schutzstaffel (SS) hinderten Passanten unter Androhung von Gewalt und Repressalien am Betreten jüdischer Geschäfte. Der von den NS-Machthabern massiv geschürte Hass auf alles 'Jüdische' ließ sich kaum noch steuern. So drückten zum Beispiel in Annaberg/Sachsen SS-Angehörige den Kunden jüdischer Geschäfte einen Stempel mit der Inschrift 'Wir Verräter kauften bei Juden' ins Gesicht." [2] Das Ziel der Nazis war nicht nur illegal, es wurde auch mit Gewalt durchgesetzt. Und im vorliegenden Zusammenhang ausschlaggebend: "Kauft nicht bei Juden!" war ein Boykott, der den Kauf von Waren in von Juden geführten Geschäften komplett unterbinden sollte.

Im Gegensatz dazu wäre die Aussetzung des Assoziierungsabkommens keineswegs gleichbedeutend mit einem Boykott, sondern würde lediglich die Handelsvorteile zurücknehmen, die das Abkommen Israel gewährt, z.B. die Abschaffung von Zöllen (vgl. Artikel 8). Auch nach der Aussetzung des Abkommens wäre der Handel mit Israel in keinster Weise verboten, jeder könnte weiterhin Waren und Dienstleistungen aus Israel beziehen oder dorthin verkaufen, eben bloß nicht mehr zu den bisher geltenden Konditionen. Es würden in den ökonomischen Beziehungen der EU zu Israel halt wieder die Regeln der WTO gelten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Von Boykott, laut Duden der Ausschluss von wirtschaftlichen Beziehungen, also keine Spur. Diesen gravierenden Unterschied sollte ein Journalist des ZDF kennen. Wer einerseits Aussagen von Politikern Faktenchecks unterzieht, muss sich andererseits mit der gleichen Messlatte prüfen lassen. Fakt ist jedenfalls: Die Gleichsetzung des "Judenboykotts" der Nazis mit der Aussetzung des Assoziierungsabkommens ist unzutreffend.

Wulf Schmiese scheint im Übrigen den Text des Assoziierungsabkommens bloß oberflächlich gelesen zu haben. Artikel 2 lautet nämlich: "Die Beziehungen zwischen den Vertragsparteien ebenso wie alle Bestimmungen des Abkommens beruhen auf der Achtung der Menschenrechte und der Grundsätze der Demokratie, von denen die Vertragsparteien sich bei ihrer Innen- und Außenpolitik leiten lassen und die ein wesentliches Element dieses Abkommens sind." Die Beachtung der Menschenrechte ist somit die Geschäftsgrundlage des Ganzen. Und das heißt logischerweise: Ohne Beachtung der Menschenrechte gibt es keinen Freihandel.

An der Beachtung der Menschenrechte (die selbstverständlich auch für Palästinenser gelten) durch Israel gibt es bekanntlich fundierte Zweifel. Gegen den israelischen Ministerpräsidenten liegt im Zusammenhang mit dem Krieg im Gazastreifen ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) vor, ihm werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Beim Internationalen Gerichtshof (IGH) wiederum ist ein Verfahren gegen Israel wegen dem Vorwurf des Genozids anhängig, der IGH bewertete zudem in einem Gutachten die gesamte israelische Besatzung der Palästinensergebiete als rechtswidrig. Nach Ansicht von Völkerrechtlern verdichteten sich zuletzt die Indizien für das Vorliegen eines Völkermords. Aus der Luft gegriffen sind solche Vorwürfe also nicht. Ist es angesichts dessen gerechtfertigt, Israel im Handel weiterhin Vorteile zu gewähren? Oder müsste man diese nicht vielmehr streichen?

So gesehen muss man an Wulf Schmiese die Frage richten, warum er seinen Zuschauern suggeriert, dass es schon antisemitisch sei, wenn man für die tatsächliche Beachtung der Menschenrechte eintritt? Das journalistische Niveau beim ÖRR war schon einmal besser. Und ich hoffe, dass man dort nicht generell auf die von Schmiese im Sommerinterview an den Tag gelegte Niveaulosigkeit herabsinken möchte.

----------

[1] ZDF vom 24.08.2025
[2] Lebendiges Museum Online, Der "Geschäftsboykott" am 1. April 1933