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01. September 2025, von Michael Schöfer
Das Bauchgefühl trügt

Neuerdings ist wieder eine Debatte über den Sozialstaat entbrannt. "Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, einfach nicht mehr leisten", behauptet Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU). [1] Dass beispielsweise die Renten durch den demographischen Wandel unter Druck geraten, ist unstrittig. Reformen sind notwendig. Die entscheidende Frage ist, was dagegen getan werden soll. Bedauerlicherweise ranken sich um die Finanzierung des Sozialstaats viele Mythen, die nicht hinterfragt werden. Da werden Behauptungen aufgestellt, für die es keine Belege gibt, und viele rechnen ihre Reformvorschläge noch nicht einmal nach. Korrektheit ist aber die Mindestvoraussetzung für politisches Handeln, denn das Bauchgefühl trügt oft und reicht deshalb nicht aus.

"Die Renten sollten etwas langsamer steigen", meint Bastian Brinkmann als Gastkommentator im Deutschlandfunk, im Hauptberuf ist er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung. "Ein Inflationsausgleich reicht, der stellt sicher, dass die Menschen im Alter nicht ärmer werden. Das würde der Rentenkasse und dem Bundeshaushalt viel Geld sparen." [2] Doch stimmt das wirklich? Oder plappert Brinkmann bloß das nach, was er irgendwo aufgeschnappt hat? Rechnen wir einfach mal nach und vergleichen die nach der gesetzlich festgelegten Rentenanpassungsformel erfolgten Rentenerhöhungen in Westdeutschland mit der Inflationsrate
(in Ostdeutschland lagen andere Rechengrößen zugrunde). [3] Der fiktive Ausgangswert ist eine Rente in Höhe von 2.000 Euro:

Jahr Rentenanpassung jeweils zum 01.07 in %
(
Westdeutschland)
Inflationsrate in Deutschland in %
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
2019
2020
2021
2022
2023
2024
0,60
1,91
2,16
1,04
0
0
0
0,54
1,10
2,41
0
0,99
2,18
0,25
1,67
2,10
4,25
1,90
3,22
3,18
3,45
0
5,35
4,39
4,57
1,3
2,0
1,4
1,0
1,6
1,6
1,6
2,3
2,6
0,3
1,0
2,2
1,9
1,5
1,0
0,5
0,5
1,5
1,8
1,4
0,5
3,1
6,9
5,9
2,2

3.184,48 € 3.196,47 €

Ergebnis: Bei den tatsächlich erfolgten Rentenerhöhungen wurden in diesem Zeitraum aus 2.000 Euro Rente 3.184,48 Euro. Hätte man die Renten jedoch, wie von Bastian Brinkmann empfohlen, entsprechend der Inflationsrate erhöht, wären es sogar 3.196,47 Euro gewesen. Die Behauptung des Redakteurs der Süddeutschen ist also objektiv falsch. Rentenanpassungen, die sich an der Inflationsrate ausrichten, würden der Rentenkasse und dem Bundeshaushalt keineswegs viel Geld sparen. Im Gegenteil, die Deutsche Rentenversicherung und der Bundesfinanzminister müssten sogar noch etwas drauflegen.

Brinkmanns Kollegin Lisa Nienhaus, Leiterin der Wirtschaftsredaktion der Süddeutschen, machte bereits im März in ihrer Zeitung den gleichen Vorschlag. [4] Und obgleich schon damals im Forum Leserkommentare darauf hingewiesen haben, dass die Inflationsrate höher ausgefallen ist als die tatsächlichen Rentenanpassungen, scheint man in der Süddeutschen nicht von dieser Forderung abweichen zu wollen. Wenn eine Zeitung immer wieder eine nachweislich falsche Behauptung aufstellt, grenzt das meiner Meinung nach schon an gezielter Desinformation. Oder die Journalisten, die anderen gerne die Welt erklären, sind ignorant und rechnen nicht selbst nach. Beides wäre für ein vermeintliches Leitmedium wenig schmeichelhaft.

Interessant ist ja, dass im Zusammenhang mit dem demographischen Wandel sehr oft über die Rente gesprochen wird, aber ganz selten über die Beamtenpensionen. Dabei ließe sich hier tatsächlich viel Geld sparen. Ein Beispiel: Laut dem Kommunalen Versorgungsverband Baden-Württemberg bekommen Landesbeamte schon nach 5 (!) Dienstjahren auf eine Mindestpension von 2.128,36 Euro ohne ehebezogenen Familienzuschlag und 2.228,40 Euro mit ehebezogenem Familienzuschlag (Stand 01.02.2025). [5] Die meisten Arbeitnehmer bekommen dagegen selbst nach 45 (!) Versicherungsjahren eine deutlich niedrigere Rente. Der fiktive Standardrentner, der 45 Jahre lang immer genau den Durchschnitt verdient, kommt laut DRV auf 1.769,40 Euro. [6]

2024 gab es hierzulande 1,788 Mio. Beamte und 0,167 Mio. Berufs- und Zeitsoldaten. Die öffentlichen Haushalte mussten für Pensionäre und deren Hinterbliebene 90,3 Mrd. Euro zahlen. [7] Zum Vergleich: Der Bundeszuschuss für die 21,229 Mio. Rentner (Stand 01.07.2023) und deren Hinterbliebene an die Rentenversicherung betrug 117,9 Mrd. Euro. [8] Was ist wohl (auf den Einzelnen bezogen) günstiger? Dafür braucht man keine Kenntnisse in höherer Mathematik.

Die Debatte über den Sozialstaat ist an Verlogenheit kaum zu überbieten. Und leider spielt die angeblich seriöse Presse da bereitwillig mit.

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[1] tagesschau.de vom 30.08.2025
[2] Deutschlandfunk vom 30.08.2025
[3] Rentenanpassungen: Deutsche Rentenversicherung vom 19.03.2024
Inflationsrate: Statista, Inflationsrate in Deutschland von 1992 bis 2024
[4] Süddeutsche vom 17.03.2025 (Paywall)
[5] Kommunaler Versorgungsverband Baden-Württemberg, Häufig gestellte Fragen, Was erhalte ich mindestens?
[6] Statistik der Deutschen Rentenversicherung, Aktuelle Daten 2025, PDF-Datei mit 137 KB
[7] Statista, Ausgaben des deutschen Staates für Pensionen, Hinterbliebenenversorgung und Beihilfen von 1991 bis 2024
[8] Bundesamt für Soziale Sicherung, Bundesmittel an die Rentenversicherung, PDF-Datei mit 69,4 KB