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| Archiv | Impressum 15. September 2025, von Michael Schöfer Ein unvergesslicher Abend In dieser verrückten Welt trifft es oft die Falschen. 2022, nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine, hat sich die Kulturwelt Westeuropas gefragt: Soll man noch Werke russischer Komponisten aufführen? Muss man russische Literatur aus den Buchläden verbannen? Ganz so, als hätten Tschaikowski, Tolstoi und Dostojewski etwas mit dem totalitären System von Wladimir Putin zu tun. Haben sie natürlich nicht. Wir Deutsche kennen das, nach 1945 fragte man andernorts: Darf man noch Beethoven spielen, kann man nach Auschwitz noch Goethe lesen? Doch was hatten die mit Hitler zu tun? Nichts. Nun
geht es vielen Israelis genauso, etwa israelischen Radprofis
bei der Spanien-Rundfahrt oder den Münchner Philharmonikern
und ihrem künftigen Chefdirigenten Lahav Shani. Letztere
wurden von der Leitung eines Musikfestivals im belgischen Gent
wieder ausgeladen, weil sich Shani angeblich nicht eindeutig
von der israelischen Kriegsführung im Gaza-Krieg distanziert
habe. Shame on you, Gent! Das ist antisemitisch und hat nichts
mit berechtigter und notwendiger Israel-Kritik zu tun.
Dieses Schubladendenken, diese Pauschalierungen sind eines der Grundübel von uns Menschen. Viele sehen häufig nicht mehr das Individuum, sondern den Israeli oder den Juden. Ja, genauso wie sie den Flüchtling, den Palästinenser oder den ... [bitte die Person einer beliebigen Gruppe einfügen] sehen. Wenn man Nationen boykottiert, beispielsweise bei Olympischen Spielen, ist das akzeptabel. Während des noch laufenden Angriffskrieges in der Ukraine die russische Nationalhymne bei Olympia erklingen zu lassen, wäre in der Tat unerträglich. Israel sollte nach dem gleichen Maßstab beurteilt werden. Aber
Menschen bloß aufgrund ihrer Herkunft zu diskriminieren, ist
generell abzulehnen. Erst wenn der oder die Einzelne
Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen der eigenen
Regierung rechtfertigt, muss man die Haltung ihm/ihr gegenüber
revidieren. Nicht alle sind so schwierig zu beurteilen wie
Anna Netrebko, dennoch gilt auch bei ihr das Gleiche wie bei
allen anderen. Allerdings finde ich diese ständigen
Forderungen nach Distanzierung von jemandem oder irgendetwas
ziemlich nervtötend. Und übergriffig. Obendrein droht das
Ganze mit der Zeit zu einem substanzlosen Bekenntnisritual zu
verkommen. Distanziere dich erst einmal von … [bitte
beliebigen Diktator oder Schurkenstaat einfügen], dann darfst
du ...
Für mich war die Übertragung des Sonderkonzerts der Münchner Philharmoniker aus dem Konzerthaus Berlin jedenfalls ein unvergesslicher Abend. Lisa Batiashvili spielte unter der Leitung von Lahav Shani Beethovens Violinkonzert - eines meiner absoluten Lieblingsstücke. Soweit ich es als Laie beurteilen kann, ein wunderbarer Auftritt. Und der rauschende Beifall nicht bloß wegen der gelungenen musikalischen Darbietung vollauf gerechtfertigt. Es ging auch darum, ein Zeichen zu setzen und nicht die Falschen für die schlimme Politik der national-religiösen Regierung von Benjamin Netanjahu verantwortlich zu machen. |