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| Archiv | Impressum 04. Oktober 2025, von Michael Schöfer Das Maß an Heuchelei ist echt unglaublich Wenn bei Festakten ein erlesenes Publikum zusammenkommt und sich gegenseitig beklatscht, kann man das Ganze meist vergessen. Man hört dort bloß das übliche Gelaber, das allerdings mit der Realität wenig zu tun hat. Das wissen die Redner, und das wissen auch die Zuhörer, dennoch erlebt man immer wieder das Gleiche. So auch am 3. Oktober aus Anlass des 35. Jahrestages der Deutschen Einheit. Die von Bundeskanzler Friedrich Merz angekündigte "Ruck-Rede" enthielt vieles, bloß keinen Ruck. In meinen Augen bot sie lediglich die bei derlei Anlässen sattsam bekannte Heuchelei. Drei Beispiele: Erstens: "Vieles muss sich ändern, wenn vieles so gut bleiben oder gar besser werden soll, wie es in unserem Land bisher ist. Diesen nicht leichten Moment für unser Land sollten wir nicht als Bedrohung erleben - lassen Sie uns darin eine Chance sehen, die wir beherzt gemeinsam ergreifen! Es ist notwendig, dass wir uns an diesem Punkt auf das wirklich Wichtige besinnen und dann, eben mit Zuversicht, nach vorn gehen. (…) 'Wir', das sind alle Deutschen. Wir sind als Bürgerinnen und Bürger gleich: gleich vor dem Gesetz; gleich im Anspruch darauf, dass der Staat niemandem Steine in den Weg legt, der sich entfalten und bewähren will; gleich in der Verantwortung für dieses Land, jeder an seiner Stelle." [1] In der "Verantwortung für dieses Land" sind wir freilich mitnichten gleich. Der Bundeskanzler steht einer Regierung vor, die eine "Reform" des Sozialstaats anstrebt. Mit "Reform" sind Leistungseinschränkungen für die Bürgerinnen und Bürger gemeint, denn Friedrich Merz vertritt ja den Standpunkt: "Wir können uns dieses System, das wir heute so haben, einfach nicht mehr leisten." [2] Die Menschen wären wohl mehrheitlich dazu bereit, Verzicht zu üben (falls das ökonomisch überhaupt der richtige Weg wäre), wenn es dabei wenigstens gerecht zuginge. Das heißt: Jeder nach seinem Leistungsvermögen. "'Wir', das sind alle Deutschen", behauptet zwar der Kanzler, aber in Wahrheit er will nur bestimmten Schichten etwas abverlangen, während andere keinerlei Verzicht üben sollen. Der Bayerische Rundfunk schreibt: "Allein die reichsten fünf Prozent halten fast die Hälfte (47 Prozent) des gesamten Nettovermögens, also Bruttovermögen abzüglich Verbindlichkeiten. Das entspricht 8,9 Billionen Euro (Stand: 1. Quartal 2025). Die vermögenden zehn Prozent der Deutschen besitzen rund 60 Prozent des gesamten Vermögens und somit 11,4 Billionen Euro. Pro Kopf heißt das: Die vermögenden zehn Prozent der Bevölkerung verfügen im Schnitt über 1,2 Millionen Euro Nettovermögen. Die unteren 50 Prozent kommen nur auf knapp 12.300 Euro. In dieser Gruppe schmälern häufig Schulden das Nettovermögen." [3] Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche lehnt indes Forderungen nach einer Erhöhung der Erbschaftsteuer ab, auch einer Reichensteuer oder einer Vermögensabgabe kann sie wenig abgewinnen. Steuererhöhungen sind in ihren Augen grundsätzlich "Gift" für den Wirtschaftsstandort. [4] Der Bundeskanzler wird doch hoffentlich die politischen Überzeugungen seiner Wirtschaftsministerin kennen. Warum er dann in Saarbrücken trotzdem wider besseren Wissens behauptete, wir seien alle gleich in der Verantwortung für dieses Land, ist schleierhaft. Faktisch will seine Regierung bei den Ärmeren sparen, die Privilegien der Reichen bleiben weiterhin unangetastet. Insofern kann ich die substanzlose Phrase "Der Staat, das sind wir alle" nicht mehr hören. Ehrlicher wäre gewesen, der Kanzler hätte in Anlehnung an George Orwell Folgendes gesagt: "Alle Bürger sind gleich, aber manche sind gleicher." (aus der Fabel "Farm der Tiere) Doch das hätte natürlich auf dem Festakt die Selbstbeweihräucherung des Establishments massiv gestört. Zweitens: "Wir wollen ein Land sein, in dem wir in einem dauernden Gespräch miteinander unseren Weg finden - in einem Gespräch in der Öffentlichkeit, in den Medien, auch in den sozialen Medien, in den Parlamenten und Institutionen, in den Schulen, in der Wissenschaft, an den Universitäten, in der Kultur, in den Vereinen, am Arbeitsplatz, in der Familie und unter Freunden. (…) So sehr es die Versuche gibt, einander den Mund zu verbieten, so sehr gibt es auch jedes Mal und zu Recht den Widerspruch und den Protest dagegen - und genau darauf kommt es an. Demokratie, meine Damen und Herren, ist öffentliche Auseinandersetzung. Wenn wir hören, dass diskutiert und gestritten wird, dann hören wir die Demokratie!" Friedrich Merz scheint offenbar auch seinen Kulturstaatsminister nicht zu kennen. Wolfram Weimers erste Amtshandlung war es nämlich, in seinem nachgeordneten Bereich das Gendern zu verbieten. Und er will, dass "alle öffentlich geförderten Institutionen wie Museen, Stiftungen oder Rundfunk", dieser Linie folgen. [5] Weimer gefällt sich in der Rolle als entschiedener Verteidiger der Freiheit von Kunst, Sprache und Meinung, bloß dass er eben in der Praxis genau das Gegenteil tut. In der Süddeutschen Zeitung wettert er zudem gegen die "Cancel Culture" von links und rechts. "Die liberale Antwort auf diese Entwicklung lautet, keinen politischen Einfluss nehmen, sondern, ganz im Gegenteil, die Freiheit der Kunst zu verteidigen. Die Korridore der Sagbaren, Erkundbaren und Darstellbaren möglichst weiten, anstatt ihn zu verengen. (…) Der Staat kann daher als Mäzen auftreten, sollte sich aber inhaltlicher Einmischung enthalten." [6] Wie bitte? Keinen politischen Einfluss nehmen? Die Korridore der Sagbaren, Erkundbaren und Darstellbaren möglichst weiten anstatt zu verengen? Und der Staat soll sich inhaltlicher Einmischung enthalten? Diesem Ideal wird er selbst nicht gerecht, denn bei einer Kunstausstellung von Jan Böhmermann hat er sich sehr wohl massiv eingemischt und letztlich den Auftritt des Rappers Chefket verhindert. Weimer monierte: "Chefket hat auf seinem Instagram-Kanal ein Foto von sich in einem T-Shirt mit einem Motiv veröffentlicht, das das Existenzrecht Israels infrage stellt, da der gewünschte Staat Palästina dort auf israelischem Staatsgebiet entsteht und kein Platz für Israel vorgesehen ist." Das Motiv ist in der Tat fragwürdig. Allerdings gehört es nicht zu der von Weimer propagierten "Freiheit der Kunst", dass nur die daran mitwirken dürfen, die eine ihm genehme Meinung vertreten. Wer, wie der Kanzler, um der Demokratie willen eine öffentliche Auseinandersetzung fordert, darf Andersdenkenden nicht den Mund verbieten lassen, sonst ist das Ganze bloß eine Farce. Drittens: "Wir wollen ein rechtsstaatliches Land sein. Unabhängige Gerichte setzen bei der Ausübung staatlicher Macht Grenzen und garantieren die Rechte der Bürgerinnen und Bürger. Bei uns müssen Gesetze mit der Verfassung und Verwaltungsentscheidungen mit den Gesetzen vereinbar sein: Sonst werden sie von den Gerichten verworfen. Bei uns muss sich die Verwaltung an die Gesetze halten: Sonst werden ihre Entscheidungen und Bescheide aufgehoben." Sagt der Bundeskanzler. Aber er scheint neben seiner Wirtschaftsministerin und seinem Kulturstaatsminister auch den Bundesinnenminister nicht zu kennen. Die von Alexander Dobrindt angeordneten Zurückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze sind nach Ansicht der meisten Juristen rechtswidrig. Doch ein entsprechendes Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 02.06.2025 (Az. 6 L 191/25) bezeichnet der Innenminister als "Einzelfallentscheidung" und missachtet es kurzerhand, die Zurückweisungen finden auf sein Geheiß hin nach wie vor statt. Wir wollen selbstverständlich ein rechtsstaatliches Land sein, allerdings gehört die Bundesregierung offenkundig nicht zu diesem "Wir". Sie nimmt sich stattdessen die Freiheit, Gerichtsurteile nach Gutdünken zu ignorieren. Was sollen also solche Reden wie die von Bundeskanzler Friedrich Merz in Saarbrücken? Ob Merz selbst an das von ihm Gesagte glaubt, darf man mit Fug und Recht bezweifeln. Er mag scheinheilig sein, aber nicht dumm. Der Regierungschef weiß ganz genau, dass er den Bürgerinnen und Bürgern mit seinen salbungsvollen Worten Sand in die Augen streut. Sein Pech: Sie kaufen es ihm immer weniger ab, spüren immer stärker die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Dem aktuellen ARD-Deutschlandtrend zufolge sind 77 Prozent der Befragten "weniger" oder "gar nicht" mit der Bundesregierung zufrieden. [7] Nach der Rede von Saarbrücken dürften ein paar Unzufriedene hinzugekommen sein. Die früheren Volksparteien brauchen sich über ihre zunehmende Bedeutungslosigkeit und das Erstarken des Rechtsextremismus wahrlich nicht zu wundern. ----------
[1]
bundesregierung.de, Rede von
Bundeskanzler Merz beim Festakt zur Deutschen Einheit "Der
Staat, das sind wir alle"
[2]
tagesschau.de vom 30.08.2025
[3]
br.de vom 03.10.2025
[4]
Spiegel-Online vom 21.09.2025
[5]
tagesschau.de vom 08.08.2025
[6]
kulturstaatsminister.de vom 06.06.2025
[7] tagesschau.de vom 02.10.2025
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