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05. Dezember 2025, von Michael Schöfer
Kampagne gegen den Sozialstaat


Warum fällt es uns Menschen so schwer, vernetzt zu denken? Dass der Klimawandel etwas mit dem Ausstoß von Treibhausgasen zu tun hat, ist eigentlich kinderleicht zu erkennen, trotzdem unternimmt die Bundesregierung gerade den Versuch, das Verbrenner-Verbot der EU zu kippen. Können die Regierenden nicht eins und eins zusammenzählen? Scheitern sie schon bei den Grundrechenarten? Das Gleiche erleben wir derzeit bei der Kampagne gegen die sozialen Errungenschaften.

"Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar", behauptet Bundeskanzler Friedrich Merz und bläst damit ins gleiche Horn wie die Lobbyisten der Arbeitgeberverbände und die ihnen zugeneigten Wirtschaftsforschungsinstitute. [1] Dabei schrecken diese noch nicht einmal vor geradezu apokalyptischen Prophezeiungen zurück, denn ihr Geschäft ist die Angst. Die Angst vor der Armut. Handwerkspräsident Jörg Dittrich: "Wir sitzen in einem Schiff, das am Rumpf ein Leck hat. Und wenn wir dieses nicht bald abdichten, wird der Kahn komplett untergehen." [2] Geht's nicht ein bisschen kleiner? Offenbar nicht, denn auch der Bundesverband der Deutschen Industrie sieht den Wirtschaftsstandort Deutschland im "freien Fall". [3] Clemens Fuest, Chef des Münchner Ifo-Instituts, malt ebenfalls die Apokalypse an die Wand: "Deutschland befindet sich seit Jahren in einem wirtschaftlichen Niedergang. Die Lage ist mittlerweile dramatisch." [4] Folgt Deutschland dem Beispiel Argentiniens, das einst zu den reichsten Ländern der Welt gehörte? Das ist zumindest das Schreckgespenst, das man uns einbläuen will: Untergang, Niedergang, freier Fall.

Und Schuld ist natürlich der angeblich überbordende Sozialstaat. Strukturelle Ungerechtigkeit? Managementfehler der deutschen Automobilindustrie? Chinas Unterbietungswettbewerb bei den Arbeitskosten? Donald Trumps erratische Zollpolitik? Wo denken Sie hin! Mit der scheinbar orchestrierten Kampagne gegen den Sozialstaat soll suggeriert werden: Wenn wir jetzt das Rentenniveau weiter absenken und das Renteneintrittsalter drastisch erhöhen, verkaufen die deutschen Autobauer in China und den USA bestimmt wieder mehr Fahrzeuge. Genau das sollen wir glauben, dabei steht der Zusammenhang auf ziemlich wackligen Füßen. Ein Beispiel: Ob VW in China mehr Autos verkauft, hängt nämlich keineswegs damit zusammen, ob wir hierzulande mit 67 oder 70 Jahren in Rente gehen. Schließlich werden fast alle Fahrzeuge, die VW in China verkauft, auch dort produziert. 2024 besaß der Konzern im "Reich der Mitte" 39 Werke mit 90.000 Beschäftigten, von den 3,236 Mio. Pkw, die VW 2023 in China an seine Kunden ausgeliefert hat, stammten 3,065 Mio. aus lokaler (d.h. chinesischer) Produktion. Das bedeutet, sie wurden auch zu chinesischen Produktionsbedingungen und -kosten hergestellt.

Außerdem sind die Rentenausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt heute nicht höher als vor 25 Jahren. Zwar sind die Rentenausgaben zwischen 1999 und 2024 um 94,6 Prozent gestiegen, dennoch ist ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt sogar gesunken, weil das BIP noch viel stärker zugelegt hat (+ 108,4 %). [5] Nicht mehr finanzierbar, Herr Bundeskanzler?


Rentenausgaben
in Mrd. €
Bruttoinlands-
produkt in Mrd. €
Anteil
in % am BIP
1999 207,0 2077,24 9,97
2004 235,4 2293,04 10,27
2009 245,8 2493,97 9,86
2014 266,2 2984,47 8,92
2019 324,8 3537,28 9,18
2024 402,8 4328,97 9,30



Es ist obendrein vollkommen schleierhaft, wie man durch den Abbau des Sozialstaats (euphemistisch "Umbau" genannt) die Wirtschaft beleben kann. Fast nie liest man, wie viel Geld in die falschen Kanäle fließt, etwa durch die stark steigenden Mieten. Doch die Politik lässt die Menschen im Regen stehen. 69,8 Prozent der Wohnungsangebote in Ulm verstoßen nach Angaben des Deutschen Mieterbundes mutmaßlich gegen die Mietpreisbremse, lediglich bei 28,1 Prozent sei die verlangte Miete korrekt. In 15 Prozent der Fälle könne man sogar von Mietwucher sprechen, weil die Miete um mehr als die Hälfte teurer sei als die Vergleichsmiete. Ulms Baubürgermeister Tim von Winning meint, dies zeige, "dass es offensichtlich leider auch einzelne Vermieterinnen und Vermieter gibt, die sich eben nicht an die gemeinschaftlichen Regeln halten". [6] Bei knapp 70 Prozent von "einzelnen" Vermieterinnen und Vermietern zu sprechen, ist eine starke Untertreibung. Und dann wundern wir uns über das Ladensterben in den Innenstädten. Das Geld, das den Menschen durch überteuerte Mieten aus der Tasche gezogen wird, fehlt logischerweise woanders. Beim Konsum. Was Wohnungsunternehmen ihren Mietern wegnehmen, wandert in die Taschen der Aktionäre. Vonovia schüttete beispielsweise für das Geschäftsjahr 2024 gut eine Milliarde Euro an die Anteilseigner aus. Aber Schuld ist natürlich - siehe oben - der Sozialstaat.

Die Reichen endlich gerecht zu besteuern und die wie ein Scheunentor weit offen stehenden Steuerschlupflöcher zu schließen, ist selbstverständlich total abwegig. Jedenfalls in den Augen der Regierenden. Die Schweizer Großbank UBS dürfte einen recht genauen Überblick über die tatsächliche Vermögensverteilung haben, schließlich sitzt sie an der Quelle. Die Zahl der Milliardäre in Deutschland ist laut UBS im abgelaufenen Jahr um ein Drittel gestiegen (von 117 im Jahr 2024 auf 156 im Jahr 2025), deren Vermögen in diesem Zeitraum um satte 26,7 Prozent gewachsen (von 546,2 Mrd. US-Dollar auf 692,1 Mrd.). Deutschland steht damit in Westeuropa unangefochten auf Platz 1. [7] So schlecht kann der Standort Deutschland also gar nicht sein. Wiedereinführung der Vermögensteuer? Erhöhung der Erbschaftsteuer? Gottseibeiuns!

"Das Statistische Bundesamt hat über Reichtum keine Daten. Man weiß zwar, wie viele Bergziegen und Zwerghasen es in Deutschland gibt, aber nicht wie viele Reiche und Hyperreiche", beklagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. "Die fünf reichsten Familien verfügen in Deutschland über ein Privatvermögen von 250 Milliarden Euro. Das ist so viel, wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt, mehr als 40 Millionen Menschen." [8] Die UBS weiß daher besser Bescheid als das Statistische Bundesamt. Weil wir darüber so wenig lesen, und wenn, dann allenfalls nebulöse Schätzungen, ist es eben viel eingängiger, den Sozialstaat für nahezu jeden Missstand im Land verantwortlich zu machen. Klingt ja so gut. Was man an Steuern und Sozialabgaben abgezogen bekommt, sehen alle Arbeitnehmer jeden Monat auf ihrer Lohnabrechnung. Wer was und wie viel genau besitzt, bleibt dagegen im Verborgenen.

Ach, wie gut, dass niemand weiß… Gut für die Reichen, die sich offenkundig nicht beklagen können, es aber trotzdem mithilfe ihrer Interessenvertreter ständig tun. Wider besseren Wissens bemühen sie die Trickle-Down-Theorie. Dabei sind vielleicht, Stichwort "vernetztes Denken", die einen gerade deshalb so arm, weil die anderen so unfassbar reich sind. In den USA waren die Nachkriegsjahre aufgrund einer breiteren Verteilung des Wohlstands die eigentlichen Blütejahre. Der Spitzensteuersatz lag bis 1964 bei über 90 Prozent und fiel erst mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan unter die 70 Prozent-Marke. Seitdem erodiert die amerikanische Mittelschicht und wächst die Kluft zwischen Arm und Reich dramatisch. Die daraus resultierende Unzufriedenheit gehört zu den Gründen für die Wahlsiege von Donald Trump (2016 u. 2024).

Diejenigen, die hierzulande den Sozialstaat am liebsten schleifen würden, orientieren sich nicht an den USA der fünfziger und sechziger Jahre, sondern eifern vielmehr den Reaganomics und ihren kruden Thesen nach (staatliche Mehreinnahmen durch drastische Steuersenkungen). Oder wie es uns das Wahlprogramm von CDU/CSU weismachen will: "Niedrigere Steuern und Beiträge sorgen (...) für höhere Löhne, mehr Arbeitsplätze, stärkeres Wachstum und sichere Sozialsysteme." Ja, ja, wer's glaubt. In Wahrheit wird eine weitere Umverteilung von unten nach oben angestrebt. Dabei bräuchten wir genau das Gegenteil.

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[1] ZDF vom 26.08.2025
[2] Die Welt vom 24.07.2025
[3] Handelsblatt vom 02.12.2025
[4] Handelsblatt vom 26.10.2025
[5] Deutsche Rentenversicherung, Rentenatlas 2025, Seite 7, PDF-Datei mit 2,1 MB und Statistisches Bundesamt, Tabelle 81000-0001 VGR des Bundes - Bruttowertschöpfung, Bruttoinlandsprodukt
[6] SWR vom 04.12.2025
[7] UBS, Billionaire Ambitions Report 2025, Seite 48, PDF-Datei mit 9 MB
[8] taz vom 03.12.2025