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23. Dezember 2025, von Michael Schöfer
Der Zerstörer des Westens


Der Attische Seebund war gewissermaßen die NATO der Antike. Er wurde 478/477 v. Chr. gegründet, um Griechenland vor den Persern zu schützen. Aber nachdem die persische Invasionsgefahr weitgehend gebannt war, entwickelte er sich - zulasten der Bündnisgenossen - zum Herrschaftsinstrument Athens. "Unter athenischer Hegemonie verloren die übrigen Seebundmitglieder die Möglichkeit zu selbständiger Außenpolitik und Kriegführung und waren zunehmend der attischen Initiative auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. (…) Aus dem in freier Entscheidung der Beteiligten und im Zeichen der Gleichberechtigung gegründeten Bund war die straff organisierte Herrschaft Athens geworden, das attische Seereich." [1] Athen riss die Kontrolle an sich, seine Partner wurden zu Vasallen.

Die ursprünglich freiwillige Mitgliedschaft mutierte zum Zwang, Austritte verhinderten die Athener mit drakonischen Strafmaßnahmen. Als sich beispielsweise die Insel Chios im Sommer 412 v. Chr. während des Peloponnesischen Krieges (431 - 404 v. Chr.) vom Bündnis mit Athen lossagen wollte, reagierten die Athener brutal. Der griechische Historiker Thukydides (ca. 454 - 396 v. Chr.) berichtete: Sie gingen bei Kardamyle und Boliskos an Land, "schlugen die herbeieilenden Chier in einer Schlacht, töteten ihrer viele und entvölkerten die dortigen Gegenden; in einer weiteren Schlacht siegten sie bei Phanai und in einer dritten bei Leukonion. Danach stellten sich die Chier nicht mehr zum Kampf, die Athener aber verwüsteten nun das Land von großem Wohlstand, das seit den Perserkriegen bis zu jener Zeit nichts zu leiden gehabt hatte." [2]

Chios wusste, was es riskierte, denn schon zuvor, im Sommer 427 v. Chr., bestrafte Athen den Abfallversuch Mytilenes mit der Hinrichtung von "etwas über tausend" Abtrünnigen, dem Schleifen der Mauern und der Wegnahme der Schiffe. [3] Vergeblich argumentierten die Abgesandten der Hafenstadt der Insel Lesbos: "Wir wissen, dass weder Freundschaft unter Einzelnen noch Gemeinschaft zwischen Staaten auf Dauer bestehen kann, wenn sie nicht in offenkundiger Ehrenhaftigkeit zueinander finden und auch sonst gleich geartet sind. (…) Jedoch wurden wir nicht Bundesgenossen zur Unterwerfung der Hellenen zu Nutzen Athens, sondern zur Befreiung von den Persern zu Nutzen von Hellas." [4] Den Umgang mit langjährigen Freunden, selbst wenn diese abfallen wollen, stellt man sich gemeinhin anders vor. So ungefähr wie den Brexit. Kein Wunder, dass sich der Attische Seebund nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg auflöste, die Athener konnten keinen mehr zwingen.

Diese Situation kann man fast eins zu eins auf die NATO übertragen: Gegründet als Bündnis unter formal Gleichen zur Abwehr der sowjetischen Invasionsgefahr, allerdings nicht gegründet zur Unterwerfung der Bündnispartner unter den völkerrechtswidrigen Willen der Trump-Administration. "Wir brauchen Grönland für die nationale Sicherheit. Wir müssen es haben", verkündet der US-Präsident nicht zum ersten Mal. Neu ist, dass er jetzt einen Sondergesandten für Grönland ernannte, der sich dafür mit folgenden Worten bedankte: "Es ist mir eine Ehre, Ihnen ehrenamtlich dabei zu dienen, Grönland zu einem Teil der Vereinigten Staaten zu machen." [5] Grönland wird völkerrechtlich von der Regierung in Kopenhagen vertreten, also durch einen NATO-Partner. Dänemark ist sogar Gründungsmitglied des Bündnisses und Grönland demzufolge ebenfalls Teil der NATO, was dem Ansinnen Washingtons eine absurde Note verleiht. Außerdem existiert auf der arktischen Insel bereits seit 1951 eine amerikanische Militärbasis, was Trumps Berufung auf die Bedrohung durch "russische und chinesische Schiffe" vollends absurd erscheinen lässt. Das, was er will, die USA in Grönland schützen, kann er längst tun. Obendrein gilt das Völkerrecht natürlich auch innerhalb der NATO, im vorliegenden Fall die Souveränität der Staaten und das Verbot, Grenzen mithilfe von militärischer Gewalt zu verschieben. Die territoriale Integrität sämtlicher Nationen ist unantastbar (vgl. Nordatlantikvertrag und Charta der Vereinten Nationen). Jedenfalls in der Theorie.

Donald Trump ist drauf und dran, den gleichen Fehler wie die Athener zu begehen: Bündnispartner als Unterworfene zu betrachten und entsprechend geringschätzig zu behandeln. Sein Handeln trägt den Keim der eigenen Niederlage in sich, "America first" à la Trump bedeutet nämlich "America alone". Der Autokrat im Weißen Haus zerstört den Westen von innen heraus und macht damit zunichte, wofür die amerikanischen Soldaten im Zweiten Weltkrieg gestorben sind und was die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen aufgebaut haben. Unfassbar. Das Ideal der "regelbasierten internationalen Ordnung", welche freilich von Trump auch andernorts missachtet wird, nicht bloß in Grönland.

Und was sagen dazu die Bundesregierung in Berlin und die EU-Kommission in Brüssel? Das, was sie auch zu den außergerichtlichen Hinrichtungen in der Karibik, den US-Sanktionen gegen Richter des Internationalen Strafgerichtshofs und zum Truppenaufmarsch vor Venezuela sagen: Nichts, sie schweigen beredt. Die Verantwortlichen ducken sich weg, bloß nicht das unberechenbare und rachsüchtige Kind im Oval Office verärgern. Es ist ein ohrenbetäubendes Schweigen. Lediglich die dänische Regierung protestiert unüberhörbar, der Rest der notorisch uneinigen EU verharrt lieber in Schande.

Ach, hätten sie doch Thukydides gelesen: Freundschaft zwischen Staaten kann nur bestehen, wenn sie in Ehrenhaftigkeit zueinander finden und die Freundschaft gleich geartet ist. Europa macht sich durch dieses aus Angst resultierende Schweigen faktisch zum Vasall der Vereinigten Staaten, quasi eine unausgesprochene Selbsterniedrigung. Wir Europäer bestellen amerikanische Waffensysteme, weil wir glauben, den US-Präsidenten durch milliardenschwere Deals besänftigen zu können. Nichts wäre trügerischer, die Regierung Trump verachtet die Europäer zutiefst. Sie quetscht uns aus wie eine Zitrone, bloß um uns am Ende naserümpfend fallen zu lassen. Alles andere sind Illusionen. Da wir Europäer uns noch nicht einmal trauen, die Abhängigkeit von den amerikanischen Tech-Konzernen peu à peu zu beenden, geschieht uns das ganz recht. Wir verdienen es offenbar nicht anders. Donald Trumps Intention ist die Zerstörung des Westens, und wenn wir nicht endlich aufwachen, wird er damit auch Erfolg haben.

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[1] Wikipedia, Attischer Seebund
[2] Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Reclam-Ausgabe 2018, Seite 630
[3] Thukydides a.a.O., Seite 230/231
[4] Thukydides a.a.O., Seite 201
[5] Stern.de vom 23.12.2025, Hervorhebung von mir