Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



27. April 2005, von Michael Schöfer
Kollektiver Wahn oder Gehirnwäsche?


Die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute haben wieder gesprochen, und wie so oft mußten sie dabei ihre früheren Voraussagen stark korrigieren. Im Herbstgutachten 2004 prognostizierten sie für 2005 noch ein Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent. Nun berichtigen sie ihre Erwartungen auf magere 0,7 Prozent. Das wird natürlich nicht reichen, um die grassierende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. So rechnen denn die Forschungsinstitute in diesem Jahr mit durchschnittlich 4,844 Mio. Arbeitslosen, 2006 sollen es 4,518 Mio. sein. Doch möglicherweise müssen auch diese Zahlen später nach oben abgeändert werden.

Auf den Aufschwung, der wiederholt als unmittelbar vor der Tür stehend bezeichnet wurde, aber bislang noch stets ausgeblieben ist, wird man wohl abermals vergebens warten. Angeblich soll das "Zwischentief" in der "zweiten Jahreshälfte" 2005 enden. Wer's glaubt. Wie oft eigentlich noch? Schließlich hat man entsprechendes schon in den zurückliegenden Jahren vorausgesagt, stattgefunden hat die Konjunkturerholung indes nie.

Die Wirtschaft fordert selbstverständlich weitere Reformen. Wie schön. Und die Auguren mahnen wie immer eine "bescheidene Lohnpolitik" und den "Abbau der Staatsschulden" an. Mit "Abbau der Staatsschulden" sind erfahrungsgemäß Einschnitte im Sozialbereich gemeint. Mit anderen Worten: Die Unternehmen sollen auch künftig von Kosten entlastet, Arbeitnehmer und Empfänger staatlicher Leistungen dagegen weiter belastet werden. Was sonst?

Wie allerdings bei zurückgehenden Arbeitseinkommen, also mit einer zusätzlichen Schwächung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage, der Aufschwung initiiert werden soll, verraten die Wirtschaftswissenschaftler nicht. So bleibt alles mehr oder minder rätselhaft inkonsistent und erschließt sich wohl nur der "sachverständigen Elite" auf dem Olymp der Ökonomie. Nachfragepolitik bleibt bei alledem natürlich total ausgeblendet, entsprechend häufig müssen die Götter des Olymps ihre Prognosen der Realität anpassen.

Man fragt sich in der Tat, ob in Deutschland alle unter einem kollektiven Wahn leiden oder ob sie das Opfer einer Gehirnwäsche geworden sind. Die Durchökonomisierung sämtlicher Lebensbereiche (der Mensch als "Kostenfaktor", "Angstsparer" oder "Konsumverweigerer") hat offensichtlich schwere neuronale Schäden hinterlassen, die die Denkfähigkeit nachhaltig beeinträchtigt. Symptom des Ganzen ist eine verheerende Einseitigkeit der Rezepte, andere Heilmethoden werden erst gar nicht in Erwägung gezogen.

Das Dumme dabei ist, daß die reale Situation dadurch immer schlechter wird. Aber was nicht sein darf, kann eben nicht sein. Die Realität hat sich gefälligst nach der Theorie zu richten. Basta. So verkünden sie mit der Aura päpstlicher Unfehlbarkeit hartnäckig ihre scheinbar ewig gültigen und selbstverständlich völlig alternativlosen Rezepte. Und Jahr für Jahr, Prognose für Prognose, wiederholt sich dieses sonderbare Schauspiel. Wie bitte, das wollen Sie nicht glauben? Nun, wir werden sehen. Wiedervorlage im Herbst 2005, beim nächsten "Gutachten".