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10. Mai 2005, von Michael Schöfer
Schwierigkeiten mit der Vergangenheit


Das Ende der Nazidiktatur hat sich soeben zum 60. Mal gejährt. Diejenigen, die diese Zeit noch aus eigenem Erleben kennen, werden immer weniger. Um so wichtiger ist das Erinnern an diese nach wie vor vollkommen unbegreiflichen Verbrechen, denn nur durch die Erinnerung lernen wir für die Zukunft, können solche Untaten auf diese Weise vielleicht für alle Zeit vermeiden. Zumindest in Europa.

Deutschland, das Volk der Täter, hat sich beeindruckend verändert. Die Demokratie ist mittlerweile gefestigt, deren Werte bei den meisten zur Selbstverständlichkeit geworden. Wir sind nur noch von Freunden umgeben. Eine "Erbfeindschaft", wie man sie beispielsweise lange Zeit gegenüber Frankreich gepflegt hat, ist wohl für immer undenkbar. Heute würde man jeden Anhänger derartiger Auffassungen für verrückt erklären. Mit Recht. Wann hat es das in der deutschen Geschichte schon einmal gegeben?

Die Deutschen haben ihre Vergangenheit weitgehend bewältigt, auch wenn es dabei im Einzelfall, etwa bei der Wehrmachtsausstellung, noch ziemlich hakt. Doch die Greuel werden nur noch von einigen Fanatikern hartnäckig geleugnet. Die Zeit des Verdrängens ist unwiderruflich vorbei.

Welchen Kraftakt dies darstellte, kann man aus der Resonanz entnehmen, die die Rede des damaligen Bundespräsidenten, Richard von Weizsäcker, zum "40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft" fand (8. Mai 1985). "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung", bekannte von Weizsäcker. Und: "Wir dürfen den 8. Mai 1945 [die Kapitulation Deutschlands, Anm. d. Verf.] nicht vom 30. Januar 1933 [der Machtergreifung der Nazis, Anm. d. Verf.] trennen."

Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Doch vor 20 Jahren hat man hierzulande tatsächlich ernsthaft darüber diskutiert, ob die Kapitulation Deutschlands nun "Befreiung" oder "Niederlage" gewesen ist. Von Weizsäcker hat das Kriegsende eindeutig als Befreiung interpretiert. Befreiung vom Joch Hitlers. "Die Initiative zum Krieg (...) ging von Deutschland aus. (...) Es war Hitler, der zur Gewalt griff", machte Weizsäcker klar. "Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Haß zu schüren." Seine Bitte an die jungen Menschen lautete deshalb: "Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander." Und konsequenterweise mahnte er: "Wenn wir uns der Verfolgung des freien Geistes während der Diktatur besinnen, werden wir die Freiheit jedes Gedankens und jeder Kritik schützen, so sehr sie sich auch gegen uns selbst richten mag." Worte, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. Eine große Rede, ein großer Präsident.

Über vielen Völkern schwebt der dunkle Schatten der Vergangenheit. Bedauerlicherweise ist die Auseinandersetzung damit vielerorts noch nicht so weit, wie bei uns. So hat etwa der russische Präsident Wladimir Putin gerade den Zusammenbruch der Sowjetunion als "die größte geopolitische Katastrophe" des 20. Jahrhunderts bezeichnet [1]. So etwas kann nur jemand äußern, der den "Eisernen Vorhang", den "Gulag" (das System der Arbeitslager) und die totalitären Elemente der sowjetischen Gesellschaft leugnet. Auch die Türkei hat enorme Probleme, den Genozid an den Armeniern anzuerkennen. Noch wird das Verbrechen von den Türken, zwischen 1915 und 1923 wurden schätzungsweise eine Million Menschen ermordet, beharrlich abgestritten. Doch auf dem Weg nach Europa wird der Türkei nichts anderes übrig bleiben, als sich zwangsläufig damit auseinanderzusetzen.

Die Welt ist beständig im Wandel. Die Deutschen haben sich geändert, andere Völker tun das auch. Aber es geht nicht bloß um die Erinnerung, sondern ebenso um die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Daß heute ein "Internationaler Strafgerichtshof" existiert, der künftige Verbrecher aburteilen wird, ist ein positives Resultat aus der Geschichte. Täter dürfen nie wieder straffrei bleiben. Dieser Einsicht werden sich selbst die USA nicht dauerhaft verschließen können. Zur Herrschaft des Rechts gibt es nämlich keine gangbare Alternative. Die Alternative zur Herrschaft des Rechts ist Willkür. Und davon haben wir Deutschen zwischen 1933 und 1945 genug gekostet. Hoffentlich für immer.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 09.05.2005