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12. Juni 2005, von Michael Schöfer
Die Sandmännchentruppe


Es sind mal wieder Wahlen in Deutschland. Ausgerechnet jetzt, welch' erstaunlicher Zufall, entdecken Politiker jeglicher Couleur ihre soziale Ader und damit den sogenannten "kleinen Mann auf der Straße". Horst Seehofer (CSU) zum Beispiel, das selbsternannte soziale Gewissen der Union. Der frühere Gesundheitsminister Helmut Kohls ist gerade bayerischer Vdk-Landesvorsitzender geworden. Und in der neuen Funktion als Sozialverbandsfunktionär hat er soeben seine erste Pressekonferenz absolviert. Seehofer kritisierte dabei vehement den im Rahmen der Gesundheitsreform allen Rentnern auferlegten erhöhten Krankenkassenbeitrag für das Krankengeld. Rentner sind bekanntlich nicht erwerbstätig, erhalten somit im Krankheitsfall auch kein Krankengeld, für das sie gleichwohl Beiträge entrichten sollen. Horst Seehofer forderte die Rentner auf, gegen die erhöhten Beitragsforderungen Widerspruch einzulegen und kündigte außerdem eine Musterklage des Vdk an. [1]

Pikant an der Geschichte ist, daß Seehofer im Jahre 2003 als Verhandlungsführer der Union diesen erhöhten Krankenkassenbeitrag mit Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) höchstpersönlich ausgehandelt hat. Seine jetzige Pressekonferenz kam demzufolge eher einer Realsatire gleich. En passant kritisierte er noch die Sozialpolitik der Regierung Kohl, der er freilich von 1989 bis 1998 selbst angehörte. "Die Art und Weise, wie die Deutsche Einheit seit 1990 finanziert wurde, ist die Hauptursache für die Belastung unserer Sozialsysteme." [2] Aha.

Eine Ansicht, die auch der frühere SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine vertritt, doch im Gegensatz zu Seehofer schon seit langem. Seehofer vergaß auch nicht, sich im Falle eines Wahlsieges der Union als Gesundheitsminister anzudienen. Er stehe einer Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Verfügung, sollte sie ihm das Ressort Gesundheit und Soziales anvertrauen. [3] Seehofer möchte mitregieren. Was auch sonst? Vielleicht, um die Absurdität auf die Spitze zu treiben, muß er dann als Gesundheitsminister die von ihm ausgehandelte Gesundheitsreform vor Gericht persönlich verteidigen, gegen die er als bayerischer Vdk-Landesvorsitzender klagen wird. Verursacher, Kläger und Beklagter in einer Person. Die hohe Politik stellt sich dem Publikum manchmal als groteskes Schauspiel dar.

Doch Seehofer ist nicht der einzige Wendehals. Sein Spezi Alois Glück ist nämlich ebenfalls ein Schlingel. Der bayerische Landtagspräsident (CSU) will den Sozialstaat retten. Im Wahlprogramm der Union müsse es eine Balance zwischen ökonomischer Kompetenz und sozialer Verantwortung geben, fordert Glück. Der Neoliberalismus der FDP habe keine Zukunft. Glück warnte: "Der Sozialstaat wird häufig nur noch als Belastung diskutiert - die Kostenseite." Dabei werde aber übersehen, daß es noch eine andere Seite gebe. Der Sozialstaat sei eine "wichtige Voraussetzung für eine humane Gesellschaft, ja ein Merkmal der humanen Gesellschaft". [4] Sind das nicht Forderungen, die bislang ausschließlich von "Besitzstandswahrern" und "Traumtänzern" erhoben wurden, die mit den Anforderungen einer globalisierten Welt nicht zurechtkommen? Fehlt noch, daß Glück öffentlich "Weg mit Hartz IV" ausruft.

Früher klang er etwas anders: "Die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, verschärft und beschleunigt durch die katastrophale Politik der rot-grünen Bundesregierung, müssen korrigiert werden. Dies bedeutet einen tiefgreifenden strukturellen Wandel, eine unausweichliche aber auch anstrengende 'Fastenkur' für unser Land als Voraussetzung für eine neue Revitalisierung." [5]

Aber auch die Sozialdemokraten entdecken rechtzeitig (?) vor der Wahl ihr Herz für die hart schuftenden Arbeitnehmer. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, Finanzminister Hans Eichel und Parteichef Franz Müntefering (alle SPD) fordern - oh Wunder - die Gewerkschaften auf, ihre Lohnzurückhaltung aufzugeben. Plötzlich sind sie für eine Stärkung der Nachfrage, die die Binnenkonjunktur auf Trab bringen soll. [6] Sind das die gleichen Politiker, die ihren Kurs der Lohnzurückhaltung und des Sozialabbaus noch vor kurzem als "alternativlos" bezeichnet haben? Wollen Clement, Eichel und Müntefering etwa dem neuen Linksbündnis unter Lafontaine und Gysi beitreten? Es erweckt zumindest den Anschein.

Was lernen wir daraus? Momentan ist wieder die Sandmännchentruppe unterwegs, die dem Wähler gehörig Sand in die Augen streuen will. Das "dumme Stimmvieh" soll seine Schlächter wie gewohnt selber wählen. Für die kurze Zeit des Wahlkampfes versteckt man eben vorübergehend das Schlachtermesser hinter dem Rücken. Nach der Wahl kann man die frisch gewetzten Klingen ja wieder hervorholen. Doch dann, liebes Stimmvieh, ist es leider zu spät.

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[1] Passauer Neue Presse vom 09.06.2005
[2] Merkur-online vom 08.06.2005
[3] Passauer Neue Presse vom 10.06.2005
[4] Die Welt vom 11.06.2005
[5] Website von Alois Glück
[6] Reuters vom 11.06.2005