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10. Juli 2005, von Michael Schöfer
Blinder Aktionismus


Es ging im Grunde nicht um die Frage, ob es wieder zu terroristischen Anschlägen kommt, sondern vielmehr wo und wann. Deshalb konnten die Bombenanschläge von London nicht wirklich überraschen, wenngleich sie trotzdem Entsetzen und Trauer hervorrufen. Moderne Gesellschaften, zumal demokratische, können sich kaum vor solchen Attentaten schützen. Das Maß an Überwachung, das notwendig wäre, um die Täter wirksam von solchen Verbrechen abzuhalten, ist gar nicht leistbar. Selbst Israel kann Anschläge nicht völlig verhindern, obgleich die Kontrolle dort im Alltag viel intensiver ist. So werden etwa, nur um ein kleines Beispiel zu nennen, an den Eingängen von Kaufhäusern regelmäßig Taschen und Rucksäcke der Kaufhauskunden durchsucht. Hundertprozentige Sicherheit ist schlechterdings unmöglich. Man kann den Terror also nur bedingt eindämmen. Viel wichtiger ist daher, ihm den Nährboden zu entziehen. Doch gerade hier handelt der Westen kontraproduktiv.

Der Anteil der unter 15-Jährigen an der Gesamtbevölkerung beträgt in Marokko 31 Prozent, in Algerien 34 Prozent, in Ägypten 36 Prozent, in Saudi-Arabien 40 Prozent, im Irak 42 Prozent und in den Palästinensergebieten sogar 46 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland sind es lediglich 15 Prozent. Das heißt, die große Mehrheit in diesen Ländern besteht aus jungen Menschen, die freilich auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Perspektive haben. So waren im Jahr 2001 nach offiziellen Zahlen in Palästina 25,2 Prozent, in Marokko 12,5 Prozent und in Algerien 27,3 Prozent erwerbslos. Die wirklichen Zahlen dürften erheblich darüber liegen. Und wegen der hohen Zuwachsrate drängen in diesen Ländern immer mehr Menschen auf den Arbeitsmarkt, der Scheitelpunkt ist hierbei noch gar nicht erreicht. Beispiel Ägypten: "Jedes Jahr kommen fast 900.000 Schulabgänger neu auf den Markt, aber nur ca. 250.000 Jobs werden jährlich geschaffen." Arbeit ist folglich Mangelware. Zudem sind die Bildungsvoraussetzungen denkbar schlecht: In den arabischen Staaten sind 40 Prozent der Erwachsenen Analphabeten. Ein Wert, der weltweit nur durch die Analphabetenrate in Süd- und Westasien überschritten wird. [1] Die Verhältnisse werden sich also auch in Zukunft wohl kaum ändern, eher verschlechtern.

Was hat das alles mit uns zu tun? Nun, der Westen ist in der Regel mit den herrschenden Eliten dieser Staaten eng verbunden. Eliten, die gar nicht an einer durchgreifenden Änderung der Verhältnisse interessiert sind. Freiheit und Demokratie spielen dabei - entgegen der Propaganda - kaum eine Rolle, denn in Wahrheit geht es bloß um den Zugriff auf die Ölfelder, von denen das Funktionieren unserer Wirtschaft abhängig ist. Wie wenig man an einer echten Verbesserung der Lage interessiert ist, zeigen die Vorgänge im Irak. So wird dort in den Gefängnissen nach wie vor gefoltert, und Sondereinheiten der irakischen Regierung begehen Zeitungsberichten zufolge bei der Bekämpfung von Aufständischen schwere Menschenrechtsverletzungen. [2] Saddam Hussein ist gestürzt, seine Methoden werden allerdings immer noch angewandt. Mit anderen Worten: Die Täter hat man ausgetauscht, geblieben sind die Taten. Es ist evident, daß dies und das brutale Vorgehen der westlichen Besatzungsmächte ein Klima produzieren, in dem der Terror prächtig gedeiht. Nachwuchssorgen scheinen die Terrorbanden jedenfalls nicht zu kennen.

Blinder Aktionismus ist wenig hilfreich. Die Union will jetzt beispielsweise im Inland den vom Grundgesetz untersagten Einsatz der Bundeswehr ermöglichen. Auf welche Weise Soldaten Anschläge wie den von London verhindern sollen, wird indes nicht beantwortet. Soldaten sind hierfür nämlich gar nicht ausgebildet. Sollen etwa an neuralgischen Punkten Panzer auffahren? Und wie will man mit derartigen Maßnahmen Selbstmordattentate in U-Bahnen verhindern? Gleichzeitig reduziert man das Personal bei den hierfür eigentlich zuständigen Sicherheitsbehörden (allein bei der Polizei in Baden-Württemberg in den nächsten Jahren mindestens 1.400 Stellen). Doch schon jetzt handelt man dort wegen Personalknappheit nach dem Motto: Quantität vor Qualität. Mit wohlfeilen Forderungen will die Politik bloß von diesem skandalösen Zustand ablenken.

Wie stets nach derartigen Anschlägen ruft man nach härteren Gesetzen. Das ist vergleichsweise billig und soll der Bevölkerung suggerieren, daß sich die Politik wirklich um die Sicherheit der Bürger kümmert. Erforderlich wäre hingegen, den Terror an der Wurzel zu bekämpfen. Doch genau das unterbleibt. Im Gegenteil: Die Realpolitik, die aus unseren vermeintlichen ökonomischen und militärischen Interessen resultiert, ruft genau den Terror hervor, den man mit letztlich ungeeigneten Mitteln verhindern will. Aber für ein abgewogenes Urteil ist, insbesondere in Wahlkampfzeiten, leider kein Platz. Wahrscheinlich müssen wir deshalb auch künftig mit Anschlägen rechnen, was dann wiederum abermals den Ruf nach härteren Gesetzen laut werden läßt. Semper idem.

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[1] Frankfurter Rundschau vom 09.09.2004
[2] Frankfurter Rundschau vom 04.07.2005