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10. Oktober 2007, von Michael Schöfer
Es wurden die Falschen bestraft


In der SPD tobt der Kampf um den Fortbestand der Agenda 2010. Konkret geht es darum, ob ältere Arbeitnehmer (die über 55-Jährigen) länger Arbeitslosengeld I ausgezahlt bekommen, bevor sie mit dem Arbeitslosengeld II auf Sozialhilfeniveau abrutschen. "Wir rücken nicht ab von der Agenda 2010", kommentiert SPD-Generalsekretär Hubertus Heil die Auseinandersetzung zwischen SPD-Chef Kurt Beck und Vizekanzler Franz Müntefering. Es gehe folglich nicht um die Abschaffung, sondern um die "Weiterentwicklung" der Agenda 2010. [1] So kann man es auch ausdrücken. Zur Erinnerung: Früher bezog man nach Auslaufen des Arbeitslosengeldes die sogenannte Arbeitslosenhilfe in Höhe von 53 bzw. 57 Prozent des pauschalierten Nettoentgelts - und das zeitlich unbegrenzt (längstens bis zum 65. Lebensjahr). Anders als beim jetzigen Arbeitslosengeld II urteilte jedoch keine Behörde darüber, ob etwa die Wohnung oder das Auto "angemessen" ist. Sogar die "Bedarfsgemeinschaften" waren noch nicht erfunden.

Mit der Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und der Sozialhilfe auf dem Niveau von Letzterer setzte Bundeskanzler Gerhard Schröder das um, was die SPD bis dahin, z.B. in ihrem Wahlprogramm 2002, kategorisch ablehnte. "Wir bekennen uns zur besonderen Verantwortung gegenüber den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Deswegen wollen wir im Rahmen der Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Absenkung der zukünftigen Leistungen auf Sozialhilfeniveau." Die Betonung lag auf keine. Dessenungeachtet erläuterte der Bundeskanzler dem verblüfften Publikum sechs Monate später in seiner berühmt-berüchtigten Rede vom 14. März 2003, "warum wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe (...), die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird". Die Agenda 2010 hatte das Licht der Welt erblickt. Ein bemerkenswerter Wandel für eine Partei, die sich der Öffentlichkeit gerne als Vertreter des "kleinen Mannes" präsentiert. Und obendrein ein außerordentlich rascher.

Der Richtungswechsel hat der SPD nicht gut getan, sie verlor Wahl um Wahl und musste schließlich 2005 mit der CDU koalieren, um im Bund an der Regierung zu bleiben. Der Wählerzuspruch ist dennoch alles andere als berauschend, in der aktuellen Forsa-Umfrage kommt die einstige Volkspartei auf magere 24 Prozent. [2] Kurt Beck will seine Partei aus diesem Tief herausführen. Nach Umfragen sind 84 Prozent der Bevölkerung für eine Verlängerung der Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I. [3] Genau das schlägt Beck vor. Wenn bloß nicht Franz Müntefering wäre, der Bundesarbeitsminister und einstige SPD-Vorsitzende will nämlich unbedingt an der Agenda 2010 festhalten.

Nun wird immer wieder angeführt, die lange Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes (früher bis 32 Monate) hätten die Unternehmen dazu genutzt, "um ihre Belegschaften auf Kosten der Sozialkassen zu verjüngen und Ältere aufs Abstellgleis zu schieben. Mit einem goldenen Handschlag verabschiedeten sich vor allem große Konzerne von ihren älteren Mitarbeitern. Die lange Bezugsdauer hat so als Programm zur Förderung von Arbeitslosigkeit unter den Älteren gewirkt." [4] Die SPD-Bundestagsabgeordnete Nina Hauer steht deswegen auf der Seite von Müntefering: "Ich will nicht, dass wir wieder dahin kommen, dass es für die Konzerne attraktiv ist, ältere Beschäftigte aus den Betrieben zu schieben, und dass diese Frühverrentungsprogramme dann von allen Sozialversicherten auch noch bezahlt werden." [5]

Dieses Argument ist, isoliert betrachtet, nicht von der Hand zu weisen. Unbestritten, die Sozialkassen sind nicht dafür gedacht, den Unternehmern die Verjüngung ihrer Belegschaften zu bezahlen, denn sie sollen die Beschäftigten bei Arbeitslosigkeit vor Not bewahren. Doch mit der Agenda 2010 hat man ausgerechnet diejenigen für eine Praxis bestraft, die sie in keinster Weise zu verantworten haben. Die eigentlichen Verursacher, die Unternehmen, blieben bekanntlich verschont. Mit anderen Worten: Man hat die Falschen bestraft. Richtig wäre vielmehr gewesen, die Unternehmen, die faktischen Verursacher von Arbeitslosigkeit, an die Kandare zu nehmen. Doch dazu fehlte es der damaligen rot-grünen Bundesregierung an Phantasie, Mut oder Willen.

Die Agenda 2010 habe 282.000 neue Jobs für Ältere geschaffen, heißt es jetzt. Nun, im Aufschwung, büßen die Unternehmen für den Kahlschlag in den Reihen ihrer Belegschaft, händeringend suchen sie nach Fachkräften. Das ist zweifellos eine positive Entwicklung. "Der Zuwachs der Erwerbstätigkeit von Älteren erklärt sich nicht mit einer Zunahme von geringfügig entlohnten Beschäftigungsverhältnissen", beschwichtigt die Arbeitsagentur. [6] Aber darunter sind lediglich Beschäftigungsverhältnisse gemeint, bei denen die Arbeitnehmer nicht mehr als 400 Euro im Monat verdienen (sogenannte Minijobs).

Über die tatsächlich erzielte Lohnhöhe der wieder erwerbstätig gemeldeten Älteren sagt die Arbeitsagentur dagegen nichts. Vor diesem Hintergrund muss abgewartet werden, ob sich die frisch eingestellten Älteren aus Angst vor Hartz IV nicht doch vorwiegend im Niedriglohnbereich bewegen. Zwangsweise, denn ein schlechter Job ist angesichts von Hartz IV immer noch besser als gar keiner. Dafür gibt es Anhaltspunkte: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Erwerbstätigen oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze, die ihr Erwerbseinkommen durch Arbeitslosengeld II aufstocken, hat nämlich deutlich zugenommen. "Nach den letzten Daten, die hierzu vorliegen, erzielten im April [2007] rund 513.000 Arbeitslosengeld II-Bezieher Erwerbseinkommen über der Geringfügigkeitsgrenze von 400 Euro und waren nicht arbeitslos gemeldet", schreibt die Arbeitsagentur im Arbeitsmarktbericht vom September 2007. [7] Ende Juni 2005 waren es hingegen bloß 388.000. [8] Von daher sind die Jubelmeldungen mit Vorsicht zu genießen.

Nach wie vor gilt: Wer mit 50 arbeitslos wird, weil sein Betrieb Pleite macht oder einfach nur die Ertragslage verbessern will, findet sich gegenwärtig, sofern er keinen neuen Arbeitsplatz findet, innerhalb eines Jahres auf Sozialhilfeniveau wieder. Er ist dann mit Menschen gleichgestellt, die möglicherweise noch nie gearbeitet haben. Dass er vielleicht 30 Jahre lang brav seine Sozialabgaben gezahlt hat, ist vollkommen unerheblich. Im Grunde eine Enteignung. Und das ist in hohem Maße ungerecht. Bei diesem Personenkreis wird sich jedoch selbst durch Kurt Becks Vorschlag fast nichts ändern. Trotzdem muss man die in Aussicht gestellte Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für die über 55-Jährigen begrüßen. Wenigstens etwas. Gleichwohl bleibt damit die Wiederherstellung des alten Zustands (vor Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005) außer Reichweite. Darüber diskutiert in der SPD niemand. Es ist freilich absolut inakzeptabel, wenn langjährig Beschäftigte schuldlos in die Sozialhilfe abrutschen - ob nach 12, 18 oder 24 Monaten. Kurt Becks Vorschlag bedeutet deshalb nur einen halbherzigen Schritt in Richtung größerer Gerechtigkeit. Kein Wunder, wenn die SPD in den Umfragen nicht aus dem Keller kommt.

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[1] Die Welt-Online vom 01.10.2007
[2] Wahlrecht.de
[3] Die Zeit-Online vom 10.10.2007
[4] Berliner Morgenpost vom 10.10.2007
[5] Deutschlandfunk vom 08.10.2007
[6] Broschüre zur Situation Älterer am Arbeitsmarkt, PDF-Datei mit 179 kb
[7] Arbeitsmarktbericht vom September 2007, Seite 10, PDF-Datei mit 2 MB
[8] Arbeitsmarkt 2005, Seite 78, PDF-Datei mit 3,9 MB


Nachtrag (12.10.2007):
Verwirrung um Becks Vorschlag. "Beck setzt sich dafür ein, das Arbeitslosengeld I für über 45- Jährige für 15 Monate und für über 55-Jährige für 24 Monate zu bezahlen", schreibt Die Welt am 7. Oktober, während er sich laut Zeit vom 2. Oktober dafür einsetzt, den "über 50-Jährigen" 24 Monate lang ALG I zu zahlen.

Nachtrag (28.10.2008):
"Wer mindestens 45 Jahre alt ist (und in den fünf Jahren vor der Arbeitslosigkeit mindestens 30 Monaten gearbeitet hat), soll die Leistung 15 Monate erhalten. Ab 50 Jahren verlängert sich die Bezugsdauer auf 18 Monate (bei 36 Monaten Beschäftigung) oder 24 Monate (bei Nachweis von 42 Monaten Beschäftigung)." So lautet der Beschluss des SPD-Parteitags in Hamburg. [9]

[9] Frankfurter Rundschau vom 27.10.2007

Nachtrag (26.01.2008):
Erneute Wende, der Bundestag hat folgende Regelung beschlossen: "Für Arbeitslose im Alter von 50 bis 54 Jahren erhöht sich mit der Neuregelung die maximale Bezugsdauer des ALG I auf 15 Monate. Voraussetzung ist allerdings eine Vorversicherungszeit von 30 Monaten. Ab 55 Jahren verlängert sich die Zahldauer auf 18 Monate, wenn in den Jahren vor der Arbeitslosigkeit 36 Monate sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nachgewiesen werden können. Ab 58 Jahren erhöht sich der Anspruch dann auf die Höchstzahldauer von 24 Monaten, sofern eine Vorversicherungszeit von 48 Monate vorliegt." [10]

[10] AFP