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28. April 2008, von Michael Schöfer
Wichtige Erkenntnisse

Terrorabwehr ist ohne Zweifel notwendig. Und sicherlich sind die USA heutzutage besonders gefährdet. Aus diesem Grund arbeiten Deutschland und die Vereinigten Staaten beim Kampf gegen den Terrorismus eng zusammen. Einem neuen deutsch-amerikanischen Abkommen zufolge sollen daher u.a. auch Daten über die Mitgliedschaft in Gewerkschaften oder über das Sexualleben Verdächtiger ausgetauscht werden. In Artikel zwölf des Abkommens heißt es: "Personenbezogene Daten, aus denen die Rasse oder ethnische Herkunft, politische Anschauungen, religiöse oder sonstige Überzeugungen oder die Mitgliedschaft in Gewerkschaften hervorgeht oder die die Gesundheit und das Sexualleben betreffen, dürfen nur zur Verfügung gestellt werden, wenn sie für die Zwecke dieses Abkommens besonders relevant sind." [1]

Ich habe gar nicht gewusst, dass die Mitgliedschaft in der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi Rückschlüsse über das Terrorverhalten zulässt. Darf etwa, wer sich hierzulande für den Mindestlohn engagiert, künftig nicht mehr in die Vereinigten Staaten einreisen? Merke: Menschen, die sich gegen Lohndumping aussprechen, bringen sicherlich auch Wolkenkratzer in Manhattan zum Einsturz. Sind wenigstens die Mitglieder des Deutschen Beamtenbundes über jeden Verdacht erhaben? Wie wir wissen, sind Letztere deutlich konservativer und gelten demzufolge in geringerem Maße als antiamerikanisch. (Obgleich der Unterschied heutzutage nur noch graduell ist. So weit haben es die Amerikaner schon gebracht.) Ab wann bin ich eigentlich als Verdächtiger einzustufen? Sind Witze über die Intelligenz und Wahrheitsliebe von George W. Bush weiterhin erlaubt? Gelten despektierliche Karikaturen ab sofort als staatsgefährdende Hetze? Sind sie ein nachprüfbarer Gradmesser für die Anschlagswahrscheinlichkeit? Und wenn ja, ab wann besteht wirklich Gefahr? Erst wenn man dreimal hintereinander über sie lacht oder bereits nach einem verkniffenen Grinsen?

Viel delikater wird das Ganze beim Sexualleben. Wer Blümchensex praktiziert, ist bestimmt völlig harmlos. Doch welche bevorzugte Stellung sagt konkret etwas über die Terrorgefahr aus? Darf man ihm noch trauen, wenn er es gerne a tergo macht? Sie liebt die Reiterstellung, gilt sie dann gleich als theoretischer Kopf einer Terrorzelle? Wie ist Analsex zu bewerten? Oder Oralsex (Cunnilingus bzw. Fellatio)? Ist der 69er-Stellung wegen der zahlenmäßigen Nähe zur 68er-Generation von vornherein zu misstrauen? Hatte die katholische Kirche doch recht: Macht Onanie zwar nicht im wörtlichen Sinne blind, dafür sehr wohl gegenüber radikalen Umtrieben? Wie sind bei alledem Homosexualität und Sado/Maso-Praktiken einzuordnen? Fragen über Fragen. Was mich vor allem neugierig macht, ist, wie die Behörden überhaupt zu Erkenntnissen über das Sexualleben kommen? Sind Deutschlands Schlafzimmer neuerdings videoüberwacht? Werden systematisch Tagebücher und E-Mails ausgewertet? Sie sehen, in der Tat ein hochinteressantes Abkommen.

Der Vertrag zeigt erneut, wie skurril der Kampf gegen den Terrorismus mittlerweile geworden ist. In einer absurden Übertreibung werden Daten erfasst, unabhängig davon, ob sie für den offiziell genannten Zweck (die Terrorabwehr) relevant sind oder nicht. Das altbekannte Stasi-Syndrom: sammeln, sammeln, sammeln - bis wir daran ersticken. Wenn Daten über die Gewerkschaftszugehörigkeit oder das Sexualleben gespeichert und gegebenenfalls an andere Staaten übermittelt werden, sind wir nicht mehr allzu weit von Orwells 1984, dem totalen Überwachungsstaat, entfernt. "Der Passus diene dem Schutz sensibler Daten", will man uns einreden. [2] So, so. Auf welcher Rechtsgrundlage werden derartige Daten eigentlich gesammelt? Eventuell weitergeben kann ich nur, was ich besitze. Logischerweise müssen entsprechende Dateien also bereits existieren. Die Behörden schützen offenbar die Demokratie konsequent zu Tode. Man fühlt sich wie in einem Alptraum - bloß einer, aus dem man nie wieder aufzuwachen droht.

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[1] AFP vom 26.04.2008
[2] Frankfurter Rundschau vom 28.04.2008