Home | Archiv | Leserbriefe | Impressum



05. Mai 2008, von Michael Schöfer
Vollbeschäftigungsgerede


Die Arbeitslosigkeit ist im April 2008 auf 3,4 Mio. (Quote: 8,1 Prozent) gesunken, und schon wird erneut über die nahende Vollbeschäftigung spekuliert. "Der Chef der Wirtschaftsweisen, Bert Rürup, hält eine Arbeitslosenquote von vier Prozent in Deutschland innerhalb der kommenden zehn Jahre für möglich. Unter diesen Umständen würde man von Vollbeschäftigung sprechen." [1] Auch SPD-Chef Kurt Beck und Außenminister Frank-Walter Steinmeier glauben daran, dass wir bald wieder Vollbeschäftigung haben werden. Das, woran man als Ziel immer festgehalten hat (ohne so richtig daran zu glauben), scheint nun endlich in greifbare Nähe gerückt.

Geben 3,4 Mio. Arbeitslose wirklich Anlass, von der Rückkehr der Vollbeschäftigung zu träumen? Wohl kaum. Zur Erinnerung: Als Helmut Kohl 1982 seine "geistig-moralische Wende" ausrief (Motto der CDU zur Bundestagswahl 1983: "Jetzt den Aufschwung wählen"), gab es in Westdeutschland im Jahresdurchschnitt gerade mal 1,83 Mio. Arbeitslose, das war eine Quote von 7,5 Prozent. [2] Damals erschien die Zahl erschreckend hoch. Als Kohl 1998 abgewählt wurde, waren es im Westen 2,75 Mio. (Quote: 10,3 Prozent) und im wiedervereinigten Gesamtdeutschland 4,28 Mio. (Quote: 12,3 Prozent). [3]

3,4 Mio. gegenüber dem Stand von 1998 sind in der Tat nicht schlecht, immerhin ein Rückgang von nahezu einer Million. Aber hätte Helmut Schmidt Anfang der achtziger Jahre angesichts von 1,83 Mio. Arbeitslosen über die absehbare Verwirklichung der Vollbeschäftigung schwadroniert, wäre er bestimmt ausgelacht worden. Es ist eben alles relativ. Mit anderen Worten: 3,4 Mio. sind besser als das, was wir in den letzten Jahren gewohnt waren. Gleichwohl sind wir noch meilenweit von wirklicher Vollbeschäftigung entfernt. Und eine vierprozentige Arbeitslosenquote als Vollbeschäftigung zu bezeichnen, ist zynisch. In diesem Fall wären immer noch rund 1,6 Mio. Menschen ohne Arbeit - fast so viel, wie seinerzeit als Grund zur Abwahl Schmidts ausgereicht haben.

Doch selbst wenn es so kommt, hat das wahrscheinlich weniger mit erfolgreicher Arbeitsmarktpolitik zu tun, als man gemeinhin glaubt, denn aufgrund des demographischen Aufbaus der Bevölkerung wird ab Mitte des nächsten Jahrzehnts ohnehin mit einem Mangel an Arbeitskräften gerechnet: "Ab 2015 rechnen wir wegen der zunehmenden Alterung der Bevölkerung mit einem deutlichen Rückgang des Erwerbspersonenpotentials", prophezeite die Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der BA, Jutta Allmendinger, bereits vor drei Jahren. [4] Wie sich die Wirtschaft bis dahin entwickelt, steht allerdings in den Sternen. Bei einer gravierenden Krise nutzt auch die schönste Demographie recht wenig. Oder hätten Sie vor 10 Jahren das Platzen der Dotcom-Blase und die Finanzmarktkrise vorhergesagt? Vermutlich nicht.

Außerdem geht es nicht bloß um den quantitativen Abbau der Arbeitslosigkeit, es kommt dabei genauso auf die Qualität der Jobs an. Aber gerade hier sieht es ziemlich schlecht aus. Den optimistischen Prognosen der Politiker steht nämlich ein negativer Trend gegenüber: Die Armut verschärft sich rapide. Galten nach dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung 1998 noch 12,1 Prozent der Bevölkerung als arm (d.h. im Besitz von weniger als 60 Prozent des Nettoäquivalenzeinkommens), ist diese Zahl bis 2003 auf 13,5 Prozent angewachsen. [5] Nach noch unbestätigten Meldungen soll die Zahl der Armen im Jahr 2006 auf 18,3 Prozent gestiegen sein. [6] Das sind fast ein Fünftel der Einwohner Deutschlands.

Die Mittelschicht bröckelt peu à peu ab: "Seit 2000 sind fast fünf Millionen Deutsche aus der Mittelschicht in die Randzonen der Gesellschaft abgewandert. (...) Während vor sieben Jahren noch 62,3 Prozent der Bevölkerung über ein mittleres Einkommen verfügten, ging der Anteil bis 2006 auf 54,1 Prozent zurück." [7] Das rasche Schrumpfen der Mittelschicht von 49 auf 44 Mio. innerhalb von sechs Jahren ist erschreckend. Kein Wunder, bewegen sich doch etliche der neu geschaffenen Jobs im Niedriglohnbereich. Nach einem Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hat sich der Prozentsatz der Niedrigverdiener seit 2000 von 18,9 Prozent auf 25,4 Prozent erhöht. Es tröstet kaum, wenn gleichzeitig der Anteil der Spitzenverdiener von 18,8 Prozent auf 20,5 Prozent gestiegen ist. Die soziale Kluft in Deutschland wird folglich immer breiter.

Diese Entwicklung ist trotz Aufschwung keineswegs beendet. Im Gegenteil, es geht womöglich weiter wie bisher: "Die deutsche Mittelschicht droht dramatisch zu schrumpfen: Nach einer McKinsey-Studie könnten bis zum Jahr 2020 weniger als 50 Prozent der Bevölkerung noch ein Einkommen auf Durchschnittsniveau haben. Das wären zehn Millionen Menschen weniger als Anfang der 90er Jahre." [8] Zur Mittelschicht zählen alle, die 70 bis 150 Prozent des Durchschnittseinkommens verdienen (laut McKinsey 2006 rund 25.000 Euro). Es ist paradox: Ungeachtet des Rückgangs der Arbeitslosigkeit geht es der breiten Masse immer schlechter. Eine Entwicklung, auf die schon länger hingewiesen wird. Doch das Establishment hat es erfolgreich verstanden, dies im Rahmen der Globalisierung als unabdingbar erscheinen zu lassen (Stichwort: Standort Deutschland).

Die Politik war, unter den hilfreichen Einflüsterungen der Lobbyisten, die Haupttriebfeder des Ganzen. Wenn Politiker heute abermals (wie oft eigentlich noch?) die Vollbeschäftigung am Horizont auftauchen sehen, ist das reine Zweckpropaganda, die lediglich von der sich verschärfenden Armut ablenken soll. Es verwundert daher wenig, wenn sich die Bürger schlecht vertreten fühlen. "Fast jeder zweite Deutsche (46 Prozent) weiß keine Partei zu benennen, die eine gute Politik für die Arbeitnehmer macht." Und "trotz der jüngst beschlossenen Rentenerhöhungen [kann] eine Mehrheit der Bürger (53 Prozent) keine Partei nennen, die die Interessen der Rentner gut vertritt." [9] Kurioserweise sind zwar 65 Prozent mit der Arbeit der großen Koalition unzufrieden, nichtsdestotrotz ist Angela Merkel bei 68 Prozent die beliebteste Politikerin. Von solchen Widersprüchen darf man sich nicht entmutigen lassen.

Vollbeschäftigung, so es sie denn tatsächlich dereinst geben sollte, nutzt nichts, wenn eine große Zahl der Erwerbstätigen an respektive unterhalb der Armutsgrenze herumkrebst. Das diesjährige 1. Mai-Motto des Deutschen Gewerkschaftsbundes ("Gute Arbeit muss drin sein") war deshalb nur allzu berechtigt. [10] Die Devise der Bundeskanzlerin ("Sozial ist, was Arbeit schafft") greift zu kurz, denn in Wahrheit ist nur gute Arbeit sozial. "Arbeit, die soziale Sicherheit und Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht" (DGB).

----------

[1] AFP vom 01.05.2008
[2] Deutscher Bundestag
[3] Statistisches Bundesamt, Datenreport 2006, Seite 98 und 99, PDF-Datei mit 13,2 MB
[4] Die Welt vom 27.08.2005
[5] Bundesministerium für Gesundheit, Pressemitteilung vom 02.03.2005, PDF-Datei mit 39 kb
[6] PR-inside vom 22.04.2008
[7] Focus vom 04.03.2008
[8] Süddeutsche vom 03.05.2008
[9] Frankfurter Rundschau vom 02.05.2008
[10] DGB, PDF-Datei mit 54 kb