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26. September 2008, von Michael Schöfer
Unsere Politiker - warum wir sie so lieb haben


"Die Welt wird nicht wieder so werden wie vor der Krise", kommentiert Bundesfinanzminister Peer Steinbrück im Brustton der Überzeugung die Verwerfungen auf den internationalen Finanzmärkten. George W. Bush sieht gar "unsere gesamte Wirtschaft in Gefahr". Der Markt funktioniere nicht richtig und weite Teile des amerikanischen Finanzsystems seien dem Zusammenbruch nahe. Deshalb könnten Millionen Amerikaner ihren Arbeitsplatz verlieren, falls sich der Kongress dem von seiner Regierung vorgelegten Rettungsplan verweigere. Man reibt sich verwundert die Augen, denn ausgerechnet diejenigen, die für die aktuelle Krankheit des Kapitalismus verantwortlich sind, biedern sich nun beim verängstigten Bürger als Wunderheiler an und versprechen vollmundig Genesung. Doch üblicherweise beauftragt man die Verursacher nicht auch noch mit dem Ausmisten des Augiasstalls, sondern die, die schon seit langem eindringlich vor der jetzt eingetretenen Entwicklung gewarnt haben, etwa Oskar Lafontaine. Aber der ist ja angeblich ein wirklichkeitsfremder Traumtänzer.

Die viel gescholtenen Hedge-Fonds zum Beispiel waren hierzulande bis zum Jahr 2004 verboten, ihr Vertrieb wurde erst mit dem Investmentmodernisierungsgesetz, das am 1. Januar 2004 in Kraft trat, zugelassen. Mit anderen Worten: Wir haben uns die Heuschrecken selbst ins Boot geholt. Der Bundesrat hat am 28. November 2003 in seiner 794. Sitzung dem Gesetz zugestimmt, Peer Steinbrück war damals am Beschluss in seiner Eigenschaft als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen beteiligt. Die Branche jubelte: "Gegenüber dem im August vorgelegten, viel diskutierten Gesetzentwurf ergaben sich folgende wesentliche Änderungen: Privatanleger dürfen nun doch in Single Hedge-Fonds investieren. (...) Darüber hinaus wurde auf die Beschränkung verzichtet, dass Dach-Hedge-Fonds nicht mehr als 40% ihres Wertes in Zielfonds mit der gleichen Anlagestrategie investieren dürfen. Außerdem sah der Entwurf vor, dass Dach-Hedge-Fonds nicht in mehr als zwei Zielfonds vom gleichen Emittenten oder von demselben Fondsmanager anlegen dürfen. Nun dürfen Dach-Hedge-Fonds in der Zukunft in mehr als zwei Zielfonds von ein und demselben Anbieter investieren. Doch das alleine reichte der Bankenlobby nicht, das Gesetz wurde sogar in der Weise geändert, dass Dach-Hedge-Fonds auch ausschließlich in Fonds der eigenen Gesellschaft investieren dürfen, vorausgesetzt dass die Zielfonds von unterschiedlichen Fondsmanagern mit unterschiedlichen Anlagestrategien gemanagt werden. Begründet wurde die Änderung damit, dass man die Marktchancen deutscher Anbieter verbessern wolle. (...) Das Investmentmodernisierungsgesetz wurde unter Mitarbeit der deutschen Fondsgesellschaften entwickelt und erarbeitet. Diese haben für sich selbst gute Ausgangsbedingungen geschaffen." [1] Einwände Steinbrücks sind nicht überliefert.

Und im März 2006, lange vor Ausbruch der Finanzmarktkrise, wird Steinbrück abermals die Einführung der Tobin-Tax ablehnen: Die Idee einer die Spekulation eindämmenden Abgabe auf internationale Finanztransaktionen tauche immer mal wieder auf wie das "Ungeheuer von Loch Ness", sagte er abwertend. [2] Aber nun sollen plötzlich die Amerikaner allein für den ganzen Schlamassel verantwortlich sein. Sehen wir uns doch einmal an, wie kräftig Pitbull Peer Steinbrück den Hedge-Fonds in den Hintern gebissen hätte, wenn er - eigenen Angaben zufolge - mit seinem Anliegen nicht an den bösen Amis gescheitert wäre: Einen Monat vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm forderte er einen "freiwilligen Verhaltenskodex für Hedge-Fonds" (Code of Conduct), das zu beschließende Regelwerk sollte mithin von der Finanzbranche selbst eingesetzt und überwacht werden. [3] Wirklich extrem bissig, Herr Finanzminister, die Hedge-Fonds-Manager haben bestimmt vor Angst mächtig geschlottert. Was von solchen freiwilligen Verpflichtungen, deren Befolgung von den Akteuren in Eigenregie kontrolliert wird, zu halten ist, dürfte hinlänglich bekannt sein. Nichts! Und jetzt tut der Bundesfinanzminister so, als habe er seinerzeit den Spekulanten wirksame Fesseln anlegen wollen und sei damit einzig und allein am Widerstand der USA gescheitert. Das nenne ich Chuzpe. Zweifellos haben die USA versagt, weil sie zu stark der Effizienz der Märkte vertrauten, Steinbrück war freilich nur um Nuancen weniger naiv.

Was lernen wir daraus? So sind sie eben, unsere Politiker, hochgradig flexibel. Motto: "Schuld sind stets die anderen" bzw. "Das habe ich doch schon immer gesagt". Auf ein mea culpa wartet man bei ihnen vergebens.

Zudem sind sie häufig äußerst großkotzig, Versprechen gehen ihnen leichter über die Lippen, als unsereinem der Morgengruß im Büro. So sahen etwa die im September 2000 auf dem Millenniumgipfel beschlossenen Ziele vor, die Zahl der Hungernden bis zum Jahr 2015 um die Hälfte auf 400 Millionen zu reduzieren. Sie erinnern sich vielleicht noch an den mit großem Pomp verkündeten Vorsatz. Wie allerdings die Vereinten Nationen gerade festgestellt haben, ist mittlerweile die Zahl der Hungernden von 854 Mio. auf 923 Mio. gestiegen. [4] Überdies wollten die Industriestaaten, so lautete jedenfalls deren Selbstverpflichtung, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe aufwenden. Momentan haben nur Dänemark, Luxemburg, Schweden, die Niederlande und Norwegen das 0,7-Prozent-Ziel schon erreicht respektive übertroffen. Deutschland lag übrigens im vorigen Jahr bei mageren 0,37 Prozent. Bloße Absichtserklärungen sind bekanntlich wohlfeil. Außerdem sind, wenn die Zusagen eingelöst werden sollen, die meisten Politiker längst abgetreten und nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen.


Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttonationaleinkommen in Prozent, Stand: 2007 [5]

Darüber hinaus präsentieren sich Politiker gerne als Retter des Weltklimas, doch es wird mehr geredet als gehandelt. "Trotz aller Klimaschutzbemühungen ist der Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) seit dem Jahr 2000 vier Mal schneller gestiegen als im Jahrzehnt davor." Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre erreichte deshalb im vergangenen Jahr das Rekordniveau von 383 ppm. "Vor Beginn der Industrialisierung lag sie um 1750 noch unter 280 ppm - eine Zunahme um knapp 37 Prozent." [6] Der CO2-Gehalt der Atmosphäre steigt damit schneller, als vom Weltklimarat in seinen Prognosen befürchtet.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte im Juni, die von der EU-Kommission angestrebten CO2-Grenzwerte zu entschärfen und lediglich schrittweise einzuführen. Vielleicht fliegt sie zum Ausgleich mal wieder nach Grönland und besichtigt dort medienwirksam abschmelzende Gletscher. Das ist gewiss hilfreich - weniger fürs Klima, sondern vielmehr für ihr Image als vermeintliche "Vorreiterin beim Klimaschutz". Ungeachtet dessen hat sich jetzt der Umweltausschuss des Europaparlaments überraschend auf die ursprünglich beabsichtigen strengen Auflagen für die Automobilindustrie geeinigt, danach soll bis 2012 ein durchschnittlicher CO2-Grenzwert von 120 Gramm pro Kilometer für die gesamte Neuwagenflotte gelten. Bayerns Ministerpräsident Günther Beckstein (CSU) sprach prompt von einem "industriefeindlichen Beschluss, der Tausende Arbeitsplätze bei den deutschen und bayerischen Premiumherstellern gefährdet". [7] In Sonntagsreden verkündet er dagegen: "Bayern will beim Umwelt- und Klimaschutz an der Spitze stehen." [8] Jo mei, als Bremser.

Darum haben wir unsere Politiker so lieb: Sie bereinigen beherzt Finanzmarktkrisen, versprechen überzeugend Hilfe für die Armen und retten ganz nebenbei das Weltklima. Was ich bloß nicht verstehen kann, ist, warum sie trotz allem im Ansehen der Bevölkerung so tief gesunken sind. Da muss das Volk etwas grundlegend missverstehen. Doch was?

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[1] Hedgefonds24.de
[2] Das Parlament Nr. 13 vom 27.03.2006, Webarchiv des Deutschen Bundestages
[3] Focus vom 16.05.2007
[4] Frankfurter Rundschau vom 26.09.2008
[5] OECD
[6] Süddeutsche vom 26.09.2008
[7] Handelsblatt vom 26.09.2008
[8] CSU